Kapitel 4-3 Jäger und Gejagte

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"...also, bereitet euch vor. Bevor ihr jedoch weitergeht, gebt bitte die Waffen und Ausrüstung aus, Kaleria"
Kaleria verfolgte Marys Vortrag nur halbherzig, seitdem sie das magische Wort "Kampfeinsatz" gehört hatte. Der Befehl diente ihr als Startschuss. Sie ließ das Geländer los, das sie gestützt hatte, und lief los. Anstatt auf den Fahrstuhl zu warten, rannte sie links an den Bereitschaftsquartieren vorbei. Als sie die Treppe erreichte, begann sie förmlich die Stufen hinunterzuspringen. Ihr Ziel war ihr Wohnbereich, dessen Eingang sich im Salon befand. Schnell legte sie die beiden Etagen zurück. Von dort aus war sie rasch in ihrem Zimmer und dann in ihrem Schlafzimmer. Mit zwei schnellen Handbewegungen schnappte sie sich das Scharfschützengewehr von der Wand über ihrem Bett und schulterte es. Dann griff sie nach einem Kasten im Schrank und rannte wieder zurück in Richtung Treppe. Trotz ihrer schweren Ladung sprang sie mühelos die Stufen zum nächsten Stock hinauf. Der Ausgang des Treppenhauses führte in den Fitnessraum, und als sie diesen verließ, öffneten sich am Ende des Ganges die Fahrstuhltüren. Drinnen stand eine sichtlich verwirrte Mary und ein amüsierter Liotok.
"Alles ... in Ordnung, Kaleria?"
"Nein, alles ist sogar großartig. Der Kaiser selbst hat diesen Tag gesegnet." Mit einem kratzenden Geräusch glitt der Karton über den Boden und stieß gegen den Türrahmen des Schießstandes. "Beeilt euch, ich habe noch andere Sachen zu tun." Das Gewehr flog hinterher, landete jedoch sanft auf dem Karton. Kaleria ging zum Eingang des Ausrüstungsraumes und hielt ihr ACom gegen den Bildschirm neben dem Türrahmen. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür und gab den Blick frei auf den Traum eines jeden Waffenliebhabers. Sturmgewehre, Pistolen, Granatwerfer, Minen und alles andere, was das Herz eines jeden Soldaten begehrte. Vieles davon war von ihrem Vater gesponsert worden, da die Ausrüstung an Bord des Schiffes knapp bemessen war.
Mary und Liotok kamen ruhig hinterher, schauten aber ebenfalls beeindruckt auf die Ausrüstung. Mary hatte die Kammer zuletzt vor ihrem Besuch in Karakta betreten.
"Also, was wünscht ihr?", fragte Kaleria und stellte sich wie eine Bedienung vor den Waffenschrank.
"Zwei Reihenfeuerpistolen, antianischer Bauweise. Modell GAWM 18"
Kaleria hatte bereits bemerkt, dass Liotok zu formellen Aussagen neigte, wenn er nervös war. Mit zwei schnellen Handgriffen hatte sie die beiden Pistolen in der Hand. Sie legte sie auf den Tisch, der zwischen ihr und den anderen stand, und wandte sich an Mary.
"Okay, lass mich nachdenken." Kaleria ließ ihre Krallen aneinander klappern. "Nichts Antianisches, du hast keine Krallen für den Abzug. Du warst im Training am besten mit dem Sturmgewehr." Mit einem entschiedenen Griff entnahm sie ein Gewehr aus der Langwaffenabteilung und legte es auf den Tisch. "Iridisches Ordonnanzgewehr HWK Stg 90. Integrierter Granatwerfer, ACom-Kompatibilität, eines der modernsten menschlichen Gewehre."
Während Liotok noch zögerte, ergriff Mary direkt das Gewehr und inspizierte seine Funktionen. "Danke, ich kann mich erinnern, wie es heißt und was es macht. Ich habe schon damit geschossen", antwortete sie mit gespielter Beleidigung. "Wie wäre es mit Magazinen?"
Kaleria hechtete zum nächsten Abteilung, die eine Sammlung von Apothekerschränken enthielt. Mit gezielten Griffen und schnellen Handbewegungen lagen bald die Magazine auf dem Tisch.
"Okay, fertig? Dann kusch."
Liotok war schon im Begriff zu gehen, als Mary ihn am Arm zurückzog. Mit einem Grinsen warf sie Kaleria einen vergnügten Blick zu. "Willst du mir sagen, die Waffe ist so schlecht, dass ich sie werfen muss? Oder ist die Munition zu teuer? Rüstung und Ausrüstung wären natürlich auch eine tolle Sache."
Kaleria ließ einmal Luft durch ihre knochige Nase entweichen. Bevor sie die Apothekerschränke wieder öffnen konnte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie Mary auf sie zukam.
"Ich finde meine Rüstung und Munition schon selbst. Du hast mir ja beigebracht, wie sie aussieht. Geh ruhig und tue, worauf du so erpicht bist. Denk aber an die Einsatzbesprechung", sagte Mary mit sanfter und einfühlsamer Stimme. Sie strahlte eine Aura aus, die Kaleria von ihr so noch nicht erfahren hatte. Motivation lenkte ihre Handlungen, ohne den Hauch von Zwang, den sie zuvor unterschwellig gezeigt hatte.
Kaleria antwortete mit einem Zusammenklappern ihrer Kiefer. Mit zwei schnellen Handgriffen griff sie nach zwei Päckchen Munition. Dann schlängelte sie an Mary und Liotok vorbei aus dem Raum. Mit ihrem Paket in den Händen und der Waffe über der Schulter betrat sie den Schützenstand und schloss die Tür hinter sich. Ihr Gepäck stellte sie auf den zweiten der drei Schießbahnen ab. Sie atmete einmal laut aus, und ihr Puls beruhigte sich merklich. Ihr Kopf fühlte sich nun leicht und frei an. Alle Gespräche mit ihrem Vater, die Diskussionen mit Takeo und Willie, all das verschwand nun in den Hintergrund. Kaleria ergriff die Waffe und hielt sie an ihr Gesicht. Der beißende Geruch von Reinigungsmittel stieg ihr in die Nase. Ein Geruch, der ihr half, sich zusätzlich zu beruhigen. Die zerkratzte, aber saubere Oberfläche des Gewehrs zeugte von einer Geschichte. Es war ihr persönliches Gewehr.
Ein Antianer erhielt bei Eintritt in die Kriegsschule seine eigene Schusswaffe vom Staat geschenkt. Diese Waffe wurde zum besten Freund und wichtigsten Gegenstand der Welt für einen Antianer. Obwohl man später die Möglichkeit hatte, eine andere Waffe zu registrieren, blieben die meisten bei ihrer ersten Auswahl, egal wie altmodisch sie war. Dieses Gewehr hatte Kaleria durch die Kriegsschule, die Universität und ihre Zeit bei HumAn begleitet. Es schien nur fair, es auch an ihrem ersten Kampfeinsatz teilhaben zu lassen.
Kaleria zerriss das Munitionspäckchen und hielt die Waffe im Anschlag. Dank der an ihre Platten angepassten Schulterstütze spürte sie so gut wie keinen unangenehmen Druck. Mit ihrer rauen Handfläche zog sie den Repetierverschluss zurück und lud mit derselben Hand einen Schuss. Nachdem der Verschluss wieder geschlossen war, wanderte ihre Hand unter das Gewehr. Obwohl es eindeutig menschlichen Einfluss hatte, besaß es trotzdem keinen Abzug. Während Kaleria langsam ihre Wangenplatten auf das dafür vorgesehene Kissen am Schaft legte, schob ihre Kralle ihren Daumen in das Abzugsloch.
"Jetzt!" schrie sie, und plötzlich sprang eine Metallfigur nach oben. Mit einem lauten Knall traf das Projektil genau ihren Kopf. Mancher Mensch hätte nun eine schmerzende Schulter gehabt, doch dank des gepolsterten Schafts und ihrer Knochenplatten spürte sie nichts mehr als einen Ruck. Antianisches Fingerkaliber gehörte zu den eher großen Munitionstypen. Selbstzufrieden legte Kaleria das Gewehr wieder ab und widmete sich dem Karton. Den Deckel öffnete sie schnell mit ihren Krallen, und eine rot-schwarze getarnte Brustplatte strahlte ihr entgegen. Dieselbe Farbe wie ihr Gewehr, zu Ehren der Nationalfarben des Großantianischen Reiches. Ehrlichkeit, Pflichtbewusstsein und Loyalität. Nichts in der bekannten Galaxie drückten diese Eigenschaften mehr aus als die Nationalfarben jeder anderen Heimat. Doch genau das dämpfte nun Kalerias Vorfreude. Sie erinnerte sich wieder an das Gespräch mit Takeo und Willie. Sie war pflichtbewusst, aber war sie ehrlich? Oder loyal gegenüber ihrer Vorgesetzten? In den letzten Tagen hatte sie vermehrt mit diesen Gedanken gespielt. In der Vergangenheit hatte sie Menschen manipuliert, und das sollte nicht noch einmal passieren, ob bewusst oder unbewusst. Nach schlaflosen Nächten und tiefgehenden Überlegungen war sie zu einer Antwort gekommen. Egal wie seltsam das Gespräch werden würde. Nachdem sie sich umgezogen hatte, würde sie ein klärendes Gespräch mit Mary führen. Und dann würde sich zeigen, ob sie die Farben ihrer Nation mit Stolz tragen konnte.

2091: Die CryosoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt