Kapitel 4-4 Jäger und Gejagte

16 2 0
                                    


Mary saß auf ihrem Bett und arbeitete an der Präsentation für die Einsatzbesprechung. Zuerst hatte sie geplant, eine Tafel und Kreide zu verwenden, aber diesen Plan hatte sie verworfen. Es wäre seltsam rübergekommen, und außerdem war nirgends Kreide zu finden. Mit Hilfe der nervigen Computerstimme und der Anleitung zur Bedienung des Hologrammprogramms war sie zufrieden mit ihrer Arbeit. Neben ihr auf dem Bett lagen Kleidung und Waffen für den Einsatz. Nun folgte wohl der nächste Teil ihrer Planung: das Anlegen und Kalibrieren der Ausrüstung. Mary war sich sicher, dass sie das ohne Hilfe schaffen würde. Schließlich hatte sie es vor wenigen Tagen von Kaleria erklärt bekommen.
Gerade als sie über die Lautsprecher ihres Zimmers Musik abspielen lassen wollte – eine der ersten Funktionen des ACom, die sie sich selbst beigebracht hatte – informierte sie eine Ansage des Computers über einen Besucher.
„Frau Schneider, vor dem Eingang ihres Zimmers befindet sich Herr McTaitor."
Erst wollte Mary den Computer aufs Neue anschnauzen. Sie war doch nicht zu dumm, um eine Tür zu bedienen, bis sie sich an die Beule an ihrem Türrahmen erinnerte. Anstatt der KI das Öffnen der Tür zu überlassen, ging sie selbst zur Tür. Sie trug nur enganliegende Shorts und ein bauchfreies Tanktop – laut dem Diensthandbuch die Unterwäsche, die man unter dem Kampfanzug tragen sollte. Mary war froh über den Teppichboden in ihrer Wohnung; ein nackter kalter Stahlboden wie im restlichen Schiff wäre zu unangenehm gewesen, um barfuß zu laufen. Sie öffnete die Tür, und vor ihr stand Willie mit besorgtem Gesicht. Schnell betrachtete er sie von oben nach unten, schien sich aber nicht an ihrer Kleidung zu stören.
„Frau Hauptmann Schneider, ich würde gerne ein paar Worte mit Ihnen wechseln, falls es möglich wäre", sagte er in einem zaghaften, aber entschlossenen Ton. Er trug ausnahmsweise nicht seinen Overall, sondern seine Uniform.
„Natürlich, immer herein in die gute Stube." Mary ließ ihn vorbei und schloss die Tür mittels Knopfdruck. „Machen Sie es sich bequem, aber ich muss noch etwas erledigen in der Zeit." Sie beobachtete, wie er sich auf einen Stuhl niederließ, nachdem er ihn in ihre Richtung gedreht hatte. Mary ging kurz ins Schlafzimmer zurück, packte die Kleidung und warf sie im Hauptraum auf die Couch.
„Was liegt Ihnen auf dem Herzen?" Mary setzte sich auf die Armlehne der Couch und zog sich Socken an.
„Nun ja, ich habe gerade gehört, was Sie da planen. Einen Kampfeinsatz? Ich ..." Willie legte eine Pause ein, als würde er noch einmal darüber nachdenken, was er sagen wollte. Mary schaute ihn interessiert an, während sie sich die Tarnhose anzog. „Ich kann das nicht gutheißen."
Mary stand auf und legte die linke Hand in die Hüfte und wedelte mit der anderen im Kreis. „Führen Sie aus."
„Ich kann nicht mit ruhigem Gewissen es über mich ergehen lassen, dass Sie Ihr Leben und das anderer gefährden. Sie haben vielleicht Erfahrung, aber nicht den aktuellen Stand der Technik. Auf jeden Fall nicht genug, um damit eine Schlacht zu führen."
Mary hatte bereits ihr T-Shirt angezogen und stützte sich gegen die Rückenlehne. Genau dieses Gespräch hatte sie zuvor mit Kaleria geführt. Nachdem sie von dem Gespräch im Cockpit berichtet hatte, war Kaleria sichtlich traurig gewesen. Sie erzählte Mary, dass sie so von der Euphorie eines Kampfeinsatzes überwältigt war, dass sie komplett ihre Pflicht als Sanitäterin vergaß – nämlich das Leben ihrer Verbündeten zu schützen.
„Ich weiß, worum es geht. Ich hatte ein Gespräch mit Kaleria über eure Bedenken", sagte Mary. „Sie hat mir erzählt, dass sie in sich selbst hineingegangen wäre, um herauszufinden, ob sie das aus Nettigkeit oder Eigenwillen tut. Eine Behauptung, die gefallen wäre." Ein Lächeln blitzte kurz auf ihren Lippen. „Sie meinte, ich hätte ihr vertraut und das Mindeste sei, dass sie den Gefallen erwidert. Obwohl sie ganz genau über meine Schwächen informiert ist, will sie unter meinem Kommando arbeiten." Sie ging auf Willie zu und schaute sanft, aber entschlossen auf den sitzenden Mann hinab. „Ich zweifle meinen Platz in dieser Welt immer noch an, aber ... ich kann es nicht mehr als versuchen."
Aus ihrer Hosentasche holte Mary eine kleine Verpackung und reichte sie Willie.
„Was ist das?"
„Kopfschmerztabletten. Eine der leeren Packungen. Ich gebe mir wirklich Mühe, euch zu führen." Mary ging zurück zur Couch und begann locker, die Stiefel zu schnüren. Im Inneren war ihr heiß; die Flamme der Überzeugung loderte in ihrem Bauch. „Ich habe Kaleria vor einem verbalen Angriff von diesem Agenten geschützt, und da ist mir klar geworden: Egal, ob es mir gefällt. Egal, ob ich mir die Zukunft so gewünscht habe. Momentan habe ich die Verantwortung für euch, und Gott hilf mir, ich werde sie erfüllen, auch wenn ich alle Pharmaprodukte der Welt gleichzeitig schlucken muss."
Mary erklärte die Situation mit so einer Selbstsicherheit, dass sie selbst von sich überrascht war. Doch hatte sie das Gefühl, zum ersten Mal Motivation für ihr neues Leben zu haben. Obwohl ihre Freunde und Familie tot waren, durfte sie sich nicht hängen lassen. Nicht, wenn sie die Verantwortung für Wesen übernahm. Es war schon ein Grundprinzip ihres alten Lebens gewesen: Lass niemals andere für deine eigenen Probleme leiden.
Willie legte die Verpackung zur Seite und schaute verwundert drein. Vielleicht hatte er sich das Gespräch anders vorgestellt.
„Sie haben Recht. Ich habe vielleicht keine Erfahrung mit der Technik und vielen anderen Dingen. Aber meine Erfahrung im Umgang mit Menschen und meine Pflicht zur Verantwortung bleiben bestehen, egal in welchem Jahrhundert wir uns befinden."
Willie stand wortlos auf und ging auf sie zu. Vor ihr angekommen, streckte er ihr eine Hand hin. Dann atmete er einmal hörbar laut aus. „Sie haben Recht, ich war vielleicht ein wenig hart. Ich spreche aus Erfahrung, dass ich lieber einen kampferprobten Offizier gehabt hätte, als einen Neuling, der sich nach dem ersten Knall der Artillerie eingenässt hat."
Mary stand auf, um dem leicht kleineren Mann gegenüberzustehen. Insgesamt sah Willie aus, als hätte er sich rausgeputzt für diese Unterhaltung. „Wenn Kaleria wirklich an ihrem Besten interessiert ist und ihr Vertrauen real ist, so gebe ich Ihnen auch meins. Es tut mir leid, dass ich kritisiert habe; das steht mir eigentlich gar nicht zu, weder durch meinen Rang noch durch meine Laufbahn."
Mary ergriff, zu seiner Überraschung, ohne zu zögern seine Hand. „Mein Freund, mir ist jemand, egal ob Untergebener oder Vorgesetzter, lieber, der mit mir ehrlich ist. Ihre Gedanken zeugen von Sorge und Mitgefühl, Eigenschaften, die ich sehr schätze." Mary ließ seine Hand gehen und lehnte sich wieder gegen die Couch. Ein mitfühlendes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Ich würde es weiterhin schätzen, wenn Sie mir Ihre Sorgen und Ideen mitteilen."
Willie schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Auch auf seinen Lippen erschien nun ein leichtes Lächeln, eine andere Sache, die man bei ihm nicht oft sah. „Ich werde mich dann mal daran machen, die Betten für die Herren Gorelianer bereitzumachen. Ich werde die Einsatzbesprechung mit Spannung abwarten."
Er drehte sich um und bewegte sich Richtung Tür. „Ach so. Sie müssen sich keine Sorgen machen, der Einsatz ist eine bloße Abholmission. Wir landen, laden die Personen ein und fliegen wieder weg. Eigentlich könnte das Liotok alleine, aber ... ich wollte Kalerias Wunsch nach ein wenig Abwechslung erfüllen."
Willie nickte nur bestätigend und verschwand durch die Tür. Mary konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es ihm nun besser ging.

2091: Die CryosoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt