11. Kapitel

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Ich gehe ein paar Schritte zurück. Harry verhält sich wie ein anderer Mensch. Er ist so seltsam... Was geht jetzt in ihm vor?
"Harry? Du kannst dich wieder umdrehen." Keine Reaktion. Als er sich nach einer gefühlten Minute immer noch nicht umgedreht hat, gehe ich um ihn herum. Er starrt mit leerem Blick auf den Boden, ins nichts.
"Harry?"

Harry's P.O.V.

Der Raum ist dunkel. Immer noch.
Das Bild in meinem Kopf blendet die Realität wieder einmal total aus. Wie ein Filmriss.

Schritte nähern sich. Wie immer sind es die schwarzen, schweren Männerstiefel. Sie bewegen sich bedrohlich langsam auf mich zu. Mein Herz rast und ich zittere.

"Aufstehen." Ich will nicht.
Ich weiß, dass ich muss, aber das letzte bisschen meines Verstandes verlangt, dass ich mich widersetze. Also bleibe ich sitzen.

"Machst du schon wieder Aufstand?!", fragt eine scharfe Stimme. Nur wenn ich mich widersetze ändert sich der Ton der Männer und Frauen.

"N - Nein. I - I - Ich..." "Sei still." Dieser Ton ist so ausdruckslos, wie von einer Maschine.
Der ca. zwei Meter große, breitschultrige Mann kommt in meinen Käfig. Noch bevor ich aufstehen kann, so gut wie das bei der Höhe meines Gefängnisses geht, schlägt mir der Mann ins Gesicht. Zweimal.

Betäubt falle ich auf meine rechte Schulter. Ich mache mir keine Mühe aufzustehen, da ich weiß, dass ich gleich raus geschliffen werde.
Und schon packt man meine Füße und zieht mich über den dreckigen Boden, über die Metallschwelle des Käfigs und auf einen weißen Gang.

Ein Tritt in meine Rippen. "Aufstehen."

Ich tue es so schnell ich kann. Ich spüre, wie mir das Bult aus der Nase läuft und mein Rücken schmerzt.

'Gott mach, dass das aufhört!'

Der typische Bultgeschmack breitet sich in meinem Mund aus und meine Ohren rauschen. Mit schwankendem Blickfeld lasse ich mich in den üblichen Raum schubsen.

Die Angst kriecht durch meinen Körper, wie ein Virus, das sich seinen Weg durch jede Zelle bahnt, bis er meine Augen erreicht hat und ich weinen muss.

Plötzlich stockt mir der Atem... Im Raum hängt ein Spiegel. Hier war noch nie ein Spiegel!

Seit diesem Tag... diesem Tag wo... Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Kopf. Immer wenn ich mich versuche zu erinnern, passiert genau das. Jeden Falls habe ich hier noch nie mein Spiegelbild betrachten können. Mit Beinen wie aus Blei laufe ich auf das Ding zu.

Ein großer, junger Mann kommt zum Vorschein. Groß, aber elend. Verweinte, rote Augen, blutverschmiertes Gesicht, fettige, lange Haare, die sich am Ende leicht locken und ich bin dünn. Zu dünn. Ich trage eine viel zu kurze, schwarze Shorts und ein dreckiges T-Shirt. Und ich stinke!
Langsam lasse ich den Blick an mir herunter gleiten. Blut klebt unter meinen Fingernägeln, meine Knie sind aufgeschürft und an meinem Arm ist eine Spur von getrocknetem Blut.

"Wie siehst du nur aus?", frage ich mein Spiegelbild, das mich verzweifelt zurück anstarrt. Mein Mund versucht ein Lächeln, dabei reißt eine Platzwunde an meiner Lippe auf. Enttäuscht von mir selbst wende ich mich ab.

Etwas verloren stehe ich jetzt im Raum. Worauf soll ich jetzt warten? Auf die nächste Foltereinheit?!

Kaum habe ich diesen Gedanken zu ende gedacht, höre ich quietschende Schuhsohlen auf dem Gang vor der Tür.

Ich knete meine zitternden Hände und starre auf den Boden.

'Mach, dass das aufhört. Mach, dass das aufhört!'

Lost | H.S. ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt