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»HÖR' zu, ich weiß, du hast bereits viel für mich getan und ich werde vermutlich noch eine weitere Nacht in deiner Auffahrt verbringen müssen, aber ich wollte dich dennoch fragen, ob ich kurz die Toilette benutzen dürfte. Ich beeile mich.« Er hebt entwaffnend die Hände, als befänden wir uns in einer Diskussion, die er nicht gewinnen möchte.

Ich beiße mir mit den Zähnen auf die Unterlippe und lasse den Blick über meine Schulter schweifen.

Ihn ins Haus zu lassen, wäre ein gewaltiger Schritt, den viele meiner Freunde niemals geschafft haben. Auch nach drei Jahren des täglichen Sehens, der guten Gespräche und der ein oder anderen Geheimnisse habe ich es nie übers Herz gebracht, sie nach Hause einzuladen. Viel zu heilig waren mir die vertrauten Wände, in denen ich mich nicht verstecken und vollkommen ich selbst sein konnte.

Ich wollte diesen schützenden Raum, den es sonst nirgends auf der Welt für mich gab, nicht zerstören. Das Risiko hatte ich nicht eingehen wollen, der Preis war zu hoch gewesen.

Tristan beginnt zu nicken, was meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn zieht.

»Alles gut, ich komme auch so klar.« Er lässt die Hände sinken und macht auf dem Absatz kehrt. Ein ungewohnter Schmerz nistet sich in meiner Brust ein und ich trete einen Schritt von der Tür weg. Ehe ich es mir besser überlegen kann, rufe ich: »Das Badezimmer ist gleich neben der Haustür, gegenüber von der Treppe.«

Tristan verharrt für wenige Sekunden, bevor er sich zu mir umdreht. Eine Augenbraue hat er nach oben gezogen, wodurch eine kleine Falte zwischen den Augen erkennbar wird.

»Bist du dir sicher?«, fragt er vorsichtig, setzt sich aber schon in Bewegung.

Meine Antwort ist eine merkwürdige Mischung aus Nicken und Kopfschütteln. Trotzdem deute ich eine einladende Geste an und öffne die Tür ein Stück weiter.

Tristan senkt den Blick, als er an mir vorbeigeht und auf dem kleinen Teppich beginnt, seine Schnürsenkel zu lösen.

Schnell schließe ich die Tür, um keine unnötige Kälte ins Haus zu lassen und baue etwas Abstand zu ihm auf.

Mir ist unwohl bei dem Gedanken, dass er gleich durch das Wohnzimmer und den Flur laufen, die Familienbilder betrachten und die Einrichtung berühren wird. Auf der anderen Seite mute ich ihm schon genug zu, für das das schlechte Gewissen in mir immer lauter wird. Außerdem: dieses Haus wird immer der Ort sein, an dem ich umgeben von der Liebe meiner Eltern aufgewachsen bin, und wo die üblen Gerüchte und strafenden Blicke niemals hingereicht haben. Aber die Wahrheit ist, dass ich in knapp einer Woche nicht mehr hier wohnen werde. Ich werde dieses Haus und den Ort aufgeben und mir einen neuen schaffen müssen, deswegen wird es hoffentlich in Ordnung sein, ihm diesen kleinen Gang zu gewähren.

»Wo sagtest du gleich, ist das Bad?« Er stellt die Schuhe fein säuberlich nebeneinander auf dem Teppich ab und richtet sich anschließend wieder auf.

Auf die kurze Distanz fällt mir seine Größe auf, die ich in der Dunkelheit nicht richtig hatte einschätzen können. Er überragt mich um einen Kopf und seine Schultern sind breit gebaut, was selbst durch die dicke Winterjacke deutlich wird.

Seine Haare stehen wirr von allen Seiten ab, als er die Mütze auszieht und in seine Jackentasche stopft. Durch die Temperaturveränderung färbt sich der Bereich um seine Nase rot und seine Augen werden glasig. Sein Auftreten in diesem Moment erinnert mich an das eines kleinen Jungen, der stundenlang im Schnee gespielt hat und sich jetzt auf einen heißen Kakao freut.

»Ich zeige es dir«, murmle ich und setze mich in Bewegung. Einige der Dielen knarren unter unseren Füßen, was mir die Bestätigung gibt, dass er mir folgt.

Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt