a c h t z e h n

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IN Gedanken gehe ich die verschiedenen Möglichkeiten durch und komme schließlich auf die Idee, oben nach ihnen zu sehen. Ich würde es nicht begrüßen, wenn er sich in einem der Zimmer befinden würde. Aber vielleicht hat er, nachdem jemand sein Auto abgeholt hat, beschlossen, weitere Kisten zu packen und Anouk nach oben mitgenommen? Er könnte die Tür geschlossen und...

Mein Blick fällt auf den Zettel mit meiner Handynummer, den ich am Morgen vor dem Frühstück geschrieben habe.

Nur steht auf dem weißen Papier jetzt weit mehr als nur meine Nummer.

Sofort eile ich auf die Nachricht zu, reiße das Papier nach oben und überfliege seine Nachricht.

Einmal. Zweimal.

Ana. Ich konnte dich nicht erreichen, vermutlich hast du einen Zahlendreher in der Handynummer.

Sie schicken jemanden von der Werkstatt, um meinen Wagen zu holen. Ich fahre kurz mit ihnen, um über den Schaden und die Kosten zu sprechen. Mit meinen Eltern habe ich ebenfalls gesprochen, sie machen sich in der Nacht auf den Weg und sollten morgen früh eintreffen.

Im Wetterbericht sagen sie, dass ein Unwetter unwahrscheinlich ist. Deswegen lasse ich Anouk hier. Ich denke, du bist auch bald wieder zuhause.

Bis später.

Das Blut gefriert in meinen Adern, als ich realisiere, was in krakeliger Schrift dort geschrieben steht. Er hat das Haus verlassen, obwohl ich ihn gebeten habe, auf mich zu warten. Er hat Anouk allein gelassen. Anouk, die nicht mehr hier ist.

Panisch lasse ich den Zettel fallen und laufe zurück in den Flur.

Mehrmals rufe ich den Namen meiner Hündin, bis ich in einen kleinen Raum gelange, den wir ausschließlich für die Wäsche benutzen. Ein kühler Windhauch lässt eine Gänsehaut auf meinen Armen entstehen. Alarmiert drehe ich den Kopf zur Seite. Hier gibt es kein Fenster, nur eine Tür, die normalerweise immer verschlossen ist.

Vor der Waschmaschine entdecke ich einen meiner Turnschuhe. Der Schnürsenkel ist zerbissen und liegt separat. Der Schuh sieht aus, als habe man ihn in die Waschmaschine gesteckt.

Mein Blick gleitet über den kaputten Schuh zur Hintertür, die einen Spaltbreit offensteht und durch die der eisige Wind ins Haus zieht.

»Oh nein...«, flüstere ich leise, meine Stimme bebt wie Espenlaub.

Tränen verschleiern meine Sicht, als ich auf die Tür zulaufe und meinen Kopf nach draußen stecke.

Ich hatte ihm gesagt, dass ich die Türen verschlossen habe, dass er keine öffnen soll. Natürlich wäre ein Notfall etwas anderes gewesen. Aber für welche Art Notfall zieht er es vor, das Haus durch die Hintertür zu verlassen, die außer zur Garage nirgendwo hinführt? Noch viel schlimmer als die Tatsache, dass er nicht auf mich gehört hat ist jene, dass er sie nicht richtig verschlossen zu haben scheint.

»Anouk!«, schreie ich, in der Hoffnung, dass sie nicht weit vom Haus entfernt ist. Doch außer einem Grummeln und dem Rascheln einiger Äste bewegt sich nichts.

Geistesgegenwärtig eile ich ins Haus zurück, kritzle eine Nachricht auf das Papier, schnappe mir Anouks Leine und eine Handvoll Leckerlies und verlasse das Haus schließlich durch die Hintertür.

Beim genauen Hinsehen erkenne ich kleine Fußabdrücke im tiefen Schnee und mache mich unüberlegt daran, ihnen zu folgen.

Ich kann nicht einschätzen, wie lange sie unbeaufsichtigt war und wann sie die Chance zur Flucht ergriffen hat. In der Gegend kennt sie jeden Weg, jede Straße und jede Kreuzung. Aber bei dem aufkommenden Unwetter, dem ständigen Donnern und der Angst, die in ihrem kleinen Körper stecken muss, bezweifle ich, dass ihr ihre Kenntnis nutzen wird.

Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt