n e u n z e h n

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»NORMALERWEISE schon. Aber er unterscheidet sich von dem anderer Tiere. Es kann gut sein, dass sie aufwachen und eine Runde durch den Wald laufen.« Tristan lässt die Hand von meinem Mund gleiten und legt sie auf meiner Schulter ab. Ich nutze die gewonnene Freiheit und gehe langsam in die Knie. Dabei gleite ich immer weiter aus seinem Griff, bis er sich schließlich dazu entschließt, ebenfalls in die Knie zu gehen.

»Was tust du?«, flüstert er energisch.

»Du musst dich hinlegen!«, befehle ich, ohne die Stimme mehr als nötig zu heben.

Tristan kommt meiner Aufforderung nach und legt sich flach in den Schnee.

Eisige Kälte frisst sich durch den Stoff meiner Jeans. Auch meine Winterjacke schafft es kaum, die Nässe von meinem Körper abzuhalten. Ich beginne zu zittern und ich balle die Hände zu Fäusten, während ich den Bären beobachte.

Dieser mustert uns nach wie vor, doch wir scheinen die Anstrengung nicht wert zu sein.

Mein Atem geht stoßweise und in meinem Kopf rebelliert ist. So viele Gedanken stürzen auf mich ein, die mir Tipps und Ratschläge für diese Situation liefern wollen und mich gleichzeitig daran erinnern, dass Anouk höchstwahrscheinlich durch diesen Wald läuft. Ich kann nur dafür beten, dass sie dem Bären nicht über den Weg gelaufen ist.

Während wir schweratmend im Schnee liegen und sanfte Flocken auf uns hinabfallen, trottet der Grizzly über den Weg, schnuppert an dem ein oder anderen Baum oder vergräbt seine dunkle Nase in der Schneeschicht.

Eine gefühlte Ewigkeit zieht ins Land, in der die Dunkelheit immer weiter zunimmt, bis der Bär sich endlich von uns entfernt und letztendlich zwischen den Bäumen Richtung Höhle verschwindet.

Ich lasse angehaltene Luft entweichen und rappele mich mühsam auf. Als wäre der Tag nicht bereits anstrengend genug.

Von der Nässe hat sich meine Jeans dunkelblau gefärbt. Auch meine Jacke ist klamm und ich spüre kalte Tropfen, die über meinen Hals unter meine Jacke laufen. Sie sorgt nur minimal dafür, dass meine vor Panik erhitzte Haut wieder eine normale Temperatur annimmt.

Ein Schauer überkommt mich und ich schlinge die Arme um meinen Körper, nachdem ich Schnee von mir geklopft und die Leine, die ich um meine Schulter trage, wieder gerichtet habe.

»Ich hoffe, das muss ich niemals wieder erleben«, haucht Tristan neben mir. Auch er hat sich inzwischen aufgerichtet und seinen Körper vom Schnee befreit. Wenn ich ihm ins Gesicht blicke, kann ich deutlich die Anspannung der letzten Minuten auf seinen Zügen lesen und die Angst, die seine Glieder heimgesucht hat. Sein Gesicht ist so blass wie der Schnee zu unseren Füßen, als er seine Mütze mit bebenden Fingern richtet.

»Hier zumindest nicht. Denn wenn wir zurück sind, kannst du dir gerne ein Zimmer in der Stadt suchen.« Ich forme meine Hände zu einer Art Schale und blase Luft zwischen die Finger, um mich etwas aufzuwärmen.

Ist mir vorher nicht schon kalt genug gewesen, habe ich jetzt definitiv das Gefühl, zu erfrieren.

»Ana, ich habe gehofft, dass wir...«, fängt er an, wird aber von einem leisen Wimmern unterbrochen. Sofort hebe ich den Zeigefinger an meine Lippen und mache einen Schritt Richtung Abgrund.

Ein erneutes Wimmern. Mein Herz macht einen Satz nach oben.

»Anouk?«, rufe ich und trete weiter an den Abgrund, bis die Schneeschicht unter meinen Füßen nachgibt und ich den Halt verliere.

Erschrocken rudere ich mit den Armen, versuche, nach etwas zu greifen. Meine Hände gehen leer aus, allerdings spüre ich, wie sich Tristans um meine Taille schlingen und mich gerade so davon abhalten, den Hang hinunterzurutschen.

Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt