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ALS ich nach fünf Minuten auflege und das Handy in die Tasche meines Bademantels gleiten lasse, ist die Leichtigkeit der letzten Stunde einer Schwere gewichen, die von der Erinnerung an meine aufgeschobenen Aufgaben stammt. Ein unsichtbares Gewicht hängt sich an mein Herz und zieht es in jenen Abgrund, aus dem es mühsam hinaufzuklettern versuchte.

Während des Telefonats hat Tristan damit begonnen, den Tisch abzuräumen. Erst jetzt fällt mir auf, dass er heute Morgen nicht nur das Frühstück vorbereitet, sondern auch unser Geschirr vom Abendessen weggespült und -geräumt hat.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt er, als ich mir mit den Händen über das Gesicht fahre und leise Luft entweichen lasse. Zögerlich nicke ich.

»Das war ein Freund meiner Eltern, Adam. Er wohnt in der Altstadt und lagert seit einer Woche meinen diesjährigen Weihnachtsbaum. Er hat mich gebeten, ihn heute abzuholen, weil er den Platz benötigt.« Mein Atem stockt, als er um den Küchentresen herum läuft und dabei nur um Haaresbreite mit dem Arm den zuvor angesprochenen Bilderrahmen mit dem Bild meiner Familie verfehlt.

Durch täglichen Aufgaben habe ich ganz vergessen, dass ich mich darum noch kümmern muss – oder möchte. Zwar bin ich dieses Jahr allein und könnte mir einen Baum, vor allem in dieser Größe, auch sparen. Allerdings würde dann etwas wichtiges fehlen und auch, wenn das bedeutet, dass ich nächste Woche nochmal putzen und die Kisten wieder einräumen muss, wollte ich nicht auf einen Baum verzichten – auch ohne Geschenke unter diesem.

Tristan packt übergebliebenen Aufschnitt in Dosen und verräumt diese in den Kühlschrank, ehe er mir einen fragenden Blick zuwirft.

»Das ist doch kein Problem, oder?«

Ich zucke mit den Achseln und gehe zur Terrassentür, um einen Blick nach draußen zu werfen. »An und für sich nicht. Aber bei dem Schnee werden wir mit dem Auto nicht weit kommen.« Ich ziehe den Kragen meines Bademantels zurecht. Erst durch diese Geste wird mir bewusst, dass ich ihn nach wie vor trage – und unter ihm nur meinen weihnachtlichen Schlafanzug.

Ertappt sehe ich zu Tristan, der nicht den Eindruck macht, als würde ihn diese Tatsache gerade – oder in der letzten Stunde, stören. Mir ging es ähnlich, aber nur, weil ich zu Beginn zu verwirrt von den lieblichen Gerüchen und seiner Geste gewesen bin. Jetzt komme ich mir irgendwie... falsch gekleidet vor. In meinem eigenen Haus.

Ich schlucke schwer und öffne den Gürtel, um den Bademantel enger an meinen Körper zu binden.

»Wie weit ist es bis in die Stadt?«

»Ungefähr zwei Kilometer.«

»Die sollten wir zu Fuß schaffen«, sagt er zuverlässig. Er klatscht in die Hände und wendet sich dem Spülbecken zu, um das herum er das dreckige Geschirr platziert hat. Mit breiter Brust lässt er Wasser einlaufen.

Ich runzle die Stirn und trete an den Tresen heran.

»Du möchtest den Weg laufen? Und den Weihnachtsbaum... nach Hause tragen?«, schlussfolgere ich. Die Verwirrung spiegelt sich in meiner Stimme wider und bringt Tristan dazu, aufzusehen.

»Tragen ist das falsche Wort. Ich dachte eher daran, ein Seil mitzunehmen und ihn zu ziehen. Zu zweit sollten wir das schaffen. Am besten gehst du dich umziehen und ich räume die Küche auf, dann können wir früher los.« Als das Becken fast voll ist, taucht er die gebrauchten Teller in das warme Wasser und beginnt mit dem Abwasch.

»Du musst das nicht tun.«

»Der Fußweg wird mir guttun. Außerdem habe ich noch nicht viel von der Stadt gesehen. Jetzt, wo es mich hier gestrandet hat, sollte ich das ausnutzen.« Er schenkt mir ein sanftes Lächeln, das kleine Grübchen hervorbringt, die mir zuvor noch nicht aufgefallen sind. Sie lassen sein Gesicht jugendlicher wirken. Noch charmanter.

Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt