s e c h s

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TRISTAN steigt die restlichen Sprossen nach oben und beginnt, lockeren Schnee von dem Ast zu streichen, dem ich kommentarlos auszuweichen versuche.

Die alten Seile durchzusägen geht schneller, als ich es für möglich gehalten hätte. Diese Tatsache bestätigt mich in der Vermutung, dass es gut war, die Schaukel zu entfernen und nicht für die nächsten Bewohner des Hauses aufzuheben. Trotzdem wiegt mein Herz schwer, als ich von der Leiter wegtrete und auf die Schaukel zulaufe, während Tristan die Leiter nach unten steigt.

Der Sitz gleicht einer Holzdiele, nur mit dem Unterschied, dass sie um einiges dicker ist. An den beiden Enden sind Löcher eingebohrt, durch die das veraltete Seil gezogen wurde.

Nachdenklich streiche ich mit den Fingern über das dunkle Holz und dessen Kerben, sodass ich nicht merke, wie Tristan an meine Seite tritt und mich nachdenklich beobachtet.

»Es war nicht bloß eine Schaukel, oder?«, fragt er und ich hebe den Blick. Meine Finger zittern, ob von der Kälte oder der aufkeimenden Erinnerung.

»Nein«, flüstere ich leise. Tristans Haare werden vom Wind zerzaust, was die Intensität nicht aus seinen dunkelblauen Augen treiben kann. Sein Blick ist aufmerksam, aber nicht drängend. Trotzdem verspüre ich plötzlich das Bedürfnis, einen wichtigen Augenblick meiner Vergangenheit mit ihm zu teilen. Es ist lange her, dass ich ein Gespräch mit jemandem geführt habe, das über die Fragen „Wie geht es dir?" und „Wie war deine Woche?" hinausging.

Die meiste Zeit hier draußen ist einsam und in die Stadt gehe ich seit sechs Monaten nur zum Einkaufen. Ansonsten ist mein einziger Gesprächspartner meine Hündin und eine Freundin, die jedoch mehrere hundert Kilometer von mir entfernt wohnt.

Ich seufzte leise und senke den Blick wieder auf das Holz in meinen Händen, das schwerer wiegt als es den Anschein hat: »Vor gut fünfzehn Jahren war ich mit meinen Eltern in einem Park, in dem es Vögel gab. Ganz verschiedene, Nymphensittiche, Halsbandsittiche, Kakadus und Aras. Sie alle haben mal Familien oder einzelnen Personen gehört, die sie aber aus den unterschiedlichsten Gründen abgeben mussten. In diesem Park haben sie ihre Gehege, allein oder mit anderen ihrer Art, bekommen. Manche sind sogar frei herumgeflogen und konnten von Besuchern, die eine kleine Spende für Futter bezahlt haben, gefüttert und auf den Arm oder die Hand genommen werden. Ich weiß noch genau, wie fasziniert ich von ihnen und der Flugschau war, die wir am Abend gesehen haben...« Der Redeschwall ist ungewohnt für mich aber es tut meinem Herzen gut, Erinnerungen zu teilen und sie nicht nur mit mir zu tragen.

Das leichte Kratzen in meinem Hals überspiele ich mit dem Lächeln, das sich unweigerlich auf meinen Lippen ausbreitet. Ich greife nach der Säge, bevor ich das Holz in den Schnee lege und ich nach unten beuge, um die Seile davon zu trennen.

»Sie haben so unbeschwert gewirkt. So lebendig. Natürlich waren sie in Gefangenschaft und hätten nicht einfach an einen anderen Ort fliegen können. Aber sie hatten etwas, das der Freiheit sehr nahekam. Und zu diesem Zeitpunkt meines Lebens habe ich mich auch danach gesehnt.« Ich halte für einen Moment inne und schiele zu ihm nach oben.

Tristan hat die Hände in die Hosentasche gesteckt. Seine Gesichtszüge sind weich und seine Augen kleben an meinen Lippen, als könnte er es gar nicht erwarten, dass ich fortfahre.

Ich wende den Blick wieder auf mein Vorhaben und kläre meine Stimme. Trotz dass es guttut, mit jemandem zu sprechen, bin ich der Überzeugung, dass die schwierigen Teile meiner Vergangenheit keinen Platz zwischen mir und einem Fremden haben, weswegen ich weitere Erklärungen weglasse.

»Als wir nach Hause kamen konnte ich nicht aufhören, über die Tiere und das Gefühl des Fliegens und Freiseins zu reden. Deswegen ist mein Vater noch am selben Abend in den Garten gegangen und hat etwas zusammengebastelt, aus dem diese Schaukel entstanden ist. Damals konnte man von hier zu dem Bach sehen, der hinter unserem Grundstück verläuft. Es führt ein kleiner Hang zu ihm nach unten, aber wenn ich hoch genug geschaukelt bin, hatte ich das Gefühl, über diesem zu schweben. Die Höhe war magisch, ich fühlte mich wie einer der Vögel hoch am Himmel.«

Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt