s e c h z e h n

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»ÜBER was denkst du nach?« Tristan lehnt den Kopf zur Seite und betrachtet mich aufmerksam. Ich zögere mit meiner Antwort und spiegele schließlich seine Haltung, indem ich meine Schläfe an der Rückenlehne des Sofas anlehne.

Der Film und sogar das Gebäck rücken in die Ferne. Allein seine leuchtenden Augen können meine Aufmerksamkeit wirklich fesseln.

»Über deine Mutter... meine Mutter... diese Situation.« Ich schüttele langsam den Kopf.

Noch immer kommen mir die vergangenen Tage wie ein Traum vor.

Stündlich erwische ich mich dabei, wie ich die Begebenheiten gedanklich durchgehe, Tristan betrachte und kaum glauben kann, dass ein Mann wie er an meiner Tür geklingelt hat. Es wäre fantastischer Stoff für eine Romanze. Winterlich und harmonisch.

Aber ich weiß, dass das Leben nicht aus Glückseligkeit, Magie und Harmonie besteht. Seit ich denken kann, kämpfe ich gegen mein Schicksal und meine Gefühle an, die es nicht gut mit mir zu meinen scheinen.

Zu glauben, dass nach all den schlechten Erfahrungen, dem Leid und der Hoffnungslosigkeit endlich etwas Gutes passiert, obwohl ich nicht mehr damit gerechnet habe, lässt in mir die Alarmglocken schrillen.

Tristan nickt langsam, als könnte er anhand meiner Stichworte die Komplexität meiner Gedanken ausmachen und verstehen. Ich weiß, dass dem nicht so ist, trotzdem stimmt mich die Vorstellung davon, dass mich jemand ohne viele Worte versteht, versöhnlich. Zugegebenermaßen wäre es schön, eine solche Person in meinem Leben zu haben.

»Weißt du, was ich mich frage?« Ich hebe eine Augenbraue und schüttele instinktiv den Kopf. Tristan hebt eine Hand an und fährt mit dem Zeigefinger vorsichtig über meine Augenbraue, ehe er ein Stück nach oben wandert.

Für einen Moment schließe ich die Augen. Ich weiß genau, was sich dort befindet. Früher haben meine Eltern immer gesagt, dass die Narbe verschwunden sein wird, wenn ich an vor den Traualtar trete. Heute steht dieser Tag zwar noch immer nicht vor der Tür, aber dass sie bis dahin verschwunden ist, ist ausgeschlossen. Sie wird mich den Rest meines Lebens begleiten und mich an den Anfang der Hölle erinnern.

Meine zitternde Hand hebt sich, um seine zu umfassen und von meinem Gesicht zu entfernen. Anstatt mich loszulassen, umklammern seine Finger meine und kommen auf meinen Beinen zur Ruhe.

»Woher hast du die?«, fragt er leise. Bei dem Gerede des laufenden Films geht seine Frage beinahe unter. Es ist allein der Tatsache zu schulden, dass er mir so nah ist, dass ich jedes einzelne Wort und die Bedeutung dahinter verstehe.

Meine Augenlider flattern wie die Flügel eines Schmetterlings, als ich die Augen wieder öffne und ich ihn geduckter Haltung betrachte.

Diese Geschichte zu erzählen, würde den letzten Fleck meiner dunklen Vergangenheit offenbaren. Ich habe ihm heute bereits so viel von mir anvertraut. Mehr als den meisten anderen Menschen in meinem Leben. Dieses letzte Detail wird schon nicht den Unterschied machen, dass er mich aus anderen Augen betrachtet und in dieselben toxischen Muster verfällt wie meine Mitschüler - zumindest hoffe ich das inständig.

»Nach meiner Einschulung stellten die anderen Kinder ziemlich direkt die Verbindung von meiner Mutter und mir her. Sie war damals an derselben Schule als stellvertretende Direktorin und Lehrerin angestellt, und bei den Schülern aufgrund ihrer strengen Art nicht sonderlich beliebt. Das hat ihre Ansichten, was mich betrifft, getrübt.«

Meine Stimme zittert und ich verabscheue mich selbst dafür, ein weiteres Mal an diesem Tag alles vor ihm auszupacken – und dabei so erbärmlich zu klingen. Er muss mich für ein Opfer halten, unfähig, bemitleidenswert. Nicht mehr.

Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt