ZWEI seiner schwarzen Strähnen, deren Enden mit einer weißen Schicht bedeckt sind, schieben sich in mein Blickfeld. Trotzdem hindern sie uns nicht daran, den Blickkontakt aufrecht zu halten.
»Du solltest öfter lachen. Es steht dir.« Meine Augen kleben an seinen rosigen Lippen, trotzdem kommt die Bedeutung der Worte nur verzögert bei mir an.
Eine bekannte Schwere legt sich auf mein Herz, trotz oder gerade wegen dem Gedanken an seine Lippen, seinen Geschmack und das Gefühl, das in mir aufkommen würde, wenn ich ihn küssen würde.
»Die letzten Monate waren...«, fange ich automatisch an. Tristan löst eine Hand von meinem Körper. Das Kribbeln, das durch ihr Fehlen ausgelöst wird, geht mir durch Mark und Bein. Doch statt sie komplett von mir zu nehmen, legt er zaghaft seinen Zeigefinger auf meine Lippen.
»Schwierig, das kann ich mir vorstellen. Aber du hast nicht verdient, ewig traurig zu sein – und ich verspreche dir, dass du bald wieder wirst lachen können. Ehrlich und voller Überzeugung.« Sein Finger wandert von meinen Lippen zu meinem rechten Mundwinkel, ehe sich seine Hand an meine Wange legt. Sofort bin ich versucht, mich an seine Hand zu schmiegen, den Worten nachzuhängen und daran festzuhalten, dass er recht hat.
»Woher weißt du das?«, frage ich gebrochen. Tränen treten in meine Augen der Funken, der während der ersten Sekunden auf mich übergesprungen ist, erlischt. Ich spüre nicht mehr das sehnliche Bedürfnis in mir, die Distanz zu überbrücken, meine Ängste zu vergessen und ihn zu küssen. Ich weiß, dass dieser Wunsch tief in mir schlummert, aber gerade ist er nicht greifbar.
So verlockend die Aussicht gewesen ist – ich bin nicht traurig darüber, dass die Chance vergangen ist. Ich möchte wissen, was er zu sagen hat. Möchte hören, wie er auf sanfte Weise versucht, meine Seele zu heilen und mich zum Weitermachen zu ermutigen.
Ich lege den Kopf ein stückweit in den Nacken, sodass ich statt auf seine Lippen wieder in seine Augen sehen kann. Diese Augen, die mir gleich am ersten Abend, unter den dicksten Schneeflocken und dem schwachsten Licht unterbewusst deutlich gemacht haben, dass von ihrem Besitzer keine Gefahr ausgeht. Dass er meine Hilfe benötigt und es in Ordnung ist, ihm zu vertrauen. Anfangs nur ein bisschen, mittlerweile immer mehr.
»Meine erste feste Freundin hatte einen Autounfall kurz nach ihrem 20. Geburtstag...« Szenen, die ich jahrelang immer wieder zurückgeschoben habe, drängen sich in mein Bewusstsein.
Moms Auto auf der Straße, ihre Handtasche mitten auf der Fahrbahn. Ihr Körper, der auf einer Liege in den Krankenwagen geschoben wurde, aus dem sie nicht mehr lebendig herauskam.
Ich habe das Gefühl, seine Augen sehen durch mich hindurch. Ich bin wie erstarrt, als die Bilder von mir Besitz ergreifen. Das Wort »Autounfall« ist das Einzige, das zu mir durchgedrungen ist.
»Ich weiß, die erste Liebe zu verlieren ist nicht dasselbe wie der Vater oder gar beide Eltern, aber ich kann dir sagen, wie sehr es wehgetan hat. Und dass der Schmerz nach einer Weile weniger geworden ist. Jeden Tag ist er spürbar und präsent, aber er lässt mich wieder atmen und lächeln, mein Leben genießen. Weil ich jetzt weiß, dass ich es für uns beide tue. Das schulde ich ihr.«
Je mehr er spricht, desto klarer wird meine Sicht und die nagenden Erinnerungen verblassen. Mehrmals blinzele ich und lasse die Packung mit dem Mehl auf die Arbeitsfläche gleiten.
Um uns herum hat sich eine gepuderte Landschaft gebildet. Das Mehl kitzelt meine Wangen und auch in meinem Oberteil hat es sich eingenistet. Allerdings könnte mich das Chaos um uns herum niemals von dem Chaos in seinen Augen ablenken.
»Wie hieß sie?«, frage ich leise. Ich stimme ihm zu, dass man unsere Geschichten nicht zu hundert Prozent miteinander vergleichen kann. Schließlich habe ich außer meiner Tante und meiner Cousine niemanden mehr – aber ich glaube, dass er zumindest ansatzweise meinen Schmerz verstehen kann. Die erste große Liebe auf tragische Weise zu verlieren, muss einem den Boden unter den Füßen wegreißen.
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Vanilleherzen ₂₀₂₂ | ✓
RomanceAᴅᴠᴇɴᴛsᴋᴀʟᴇɴᴅᴇʀ ₂₀₂₂ Statt die Vorweihnachtszeit mit dem Backen von Plätzchen, dem Sehen von Weihnachtsfilmen oder dem Einpacken von Geschenken zu verbringen, muss Anastasia ihr Elternhaus auf dessen Verkauf vorbereiten. Dabei bleibt ihr keine Zeit...