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Die Sonne senkte sich auf die Tannenspitzen des Wittmarscher Waldes und ihr unheilvolles, rotes Glühen blickte Elia fast schadenfroh aus dem dunklen Geäst entgegen

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Die Sonne senkte sich auf die Tannenspitzen des Wittmarscher Waldes und ihr unheilvolles, rotes Glühen blickte Elia fast schadenfroh aus dem dunklen Geäst entgegen. Es tauchte die Welt in ein tiefes Orange.

„I-ich muss n-nach Hause", murmelte er, ohne seinen Blick vom Sonnenuntergang abwenden zu können. Ein Wassertropfen rann ihm übers Gesicht und verfing sich in seinen dunklen Wimpern. Elia blinzelte. Selbst die Kälte war für einen kurzen Moment vergessen. „I-ich muss nach H-Hause."

Otis streckte die Hand aus und machte eine fordernde Geste. „Zuerst den Schlüssel, Junge. Bitte."

Doch Elia klammerte sich um das kühle Metall wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Er zitterte. Konnte es nicht stoppen. Er war tot, so was von tot! Die Monster würden gleich aus ihren Löchern kriechen und keiner würde kommen, um ihm zu helfen. Keine Emma. Kein Kiran. Und er hatte kein Salz dabei. Dumm. Elia hätte sich ohrfeigen können.

„Elia." Unter Otis Stimme mischte sich ein warnender Unterton.

Elia hätte fast gelacht. Wenn es mal nicht nach deinem Willen läuft, bist du nicht mehr so freundlich, was? Er biss sich auf die Zunge, um die Gedanken nicht doch versehentlich laut auszusprechen, und legte den Schlüssel zögerlich in Otis' fordernde Hand. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Er hatte zu fest zugebissen.

„Guter Junge", meinte Pfarrer Otis und beim Anblick seines Lächelns stellten sich Elias Nackenhaare auf. „Jetzt geh zu Irene ins Gemeindehaus, sie wird was vom Abendessen bringen. Du kannst heute bei uns schlafen, deine Eltern wissen Bescheid. Ja, Elia?"

Nein. Er konnte nicht bleiben, auf keinen Fall. „I-ich muss n-nach Hause. Meine E-eltern werden s-sich Sorgen machen, w-wenn..." Was hatte Pfarrer Otis ihm gerade noch gesagt? Elia konnte sich nicht mehr erinnern.

Otis legte dem schmalen Jungen eine Hand auf die Schulter. Sein schwieliger Daumen fuhr kleine Kreise über die empfindliche Haut an seinem Nacken. Elia drehte den Kopf zur Seite. Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. „Michael und Birgit wissen, dass du bei uns bist. Du bist hier gut aufgehoben, Elia, sie werden sich keine Sorgen machen. Georg oder Irene können dich morgen nach Hause bringen."

Zu spät. Das war zu spät. Wie lange noch, bis der letzte Sonnenstrahl am Horizont verschwunden war? Zehn Minuten? Fünfzehn? Mit etwas Glück würde ihn ein spinnenartiger Reißfänger erwischen, bevor die anderen Monster ihn zerfleischten – das wäre zumindest ein schmerzfreier Tod. Kopf ab. Dana hatte nicht lange gelitten.

„Und lass dir von Irene ein Handtuch geben, Junge. Trockne dich ab." Otis fuhr über den triefenden Baumwollstoff, der Elia am Körper klebte. Dann steckte er den Schlüssel weg und drehte den Kopf zur schmiedeeisernen Tür des Bethauses. „Ist alles vorbereitet für das Abendgebet?", fragte er.

Erst jetzt entdeckte Elia die zwei älteren Jungen in blütenweißen Roben. Lukas und Jonah. Beide trugen ein silbernes Fässchen voll qualmendem Weihrauch an langen Ketten in der Hand und sahen verhalten zu Elia hinüber. „Ja, Vater", sagten sie wie aus einem Munde. Otis nickte und folgte ihnen ins Innere des Bethauses.

𝕰𝖓𝖈𝖞𝖈𝖑𝖔𝖕𝖆𝖊𝖉𝖎𝖆 𝕴𝖓𝖒𝖔𝖗𝖙𝖚𝖆𝖊Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt