Liebes Tagebuch,
dies ist mein erster Tagebucheintrag. Offensichtlich, denn das ist die erste Seite. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, was ich mit dir anfangen soll. Soll ich hier schreiben, als würde ich mit dir reden? Einem Buch? Fühlt sich komisch an, aber ich denke, das ist, was ich hier machen muss ...
Jedenfalls hat meine Mutter dich mir geschenkt. Um meine Gefühle und Gedanken niederzuschreiben. Ich vermute, dass sie denkt, das ist die beste Lösung, weil ich ja nicht mit ihr reden will. Weil ich ja mit niemanden reden will. Worüber sollte ich auch reden? Über meine Probleme? Ich wollte sie wirklich nicht damit belasten, vor allem, da sie sowieso nichts dagegen machen konnte. Außerdem hat sie schon genug mit ihrem Job, dem Haushalt und meinem kleinen Bruder zutun, auch wenn ich ihr bei den zwei letzten Dingen oft half. Aber sie ist nun mal eine alleinerziehende Mutter für zwei Kinder mit einem schlecht bezahlten Job, den sie nicht wirklich wechseln kann, weil sie als Teenager zu faul und ein Partytier war und somit nie etwas Vernünftiges gelernt hat. Und bevor sie diese Phase hatte hinter sich lassen können, lernte sie meinen Vater kennen und wurde schwanger. Vorbei war ihre Möglichkeit, etwas zu lernen, denn sie musste sich um mich kümmern, denn mein Vater war nicht der Typ dafür und weitere Familie hatten wir nicht mehr. Ganze zwölf Jahre haben es die Beiden geschafft, wenn auch mit vielen Streits und einigem Fremdgehen, bis meine Mutter mit meinem Bruder schwanger wurde - von Verhütung hatten die beiden wohl noch nichts gehört. Wobei, bei der wenigen Aufklärung, die man in diesem Land bekam, war das nicht einmal so unwahrscheinlich. Auf jeden Fall hatte mein Vater genug und so musste sich unsere Mutter seitdem allein mit uns durchschlagen. Nicht einmal Unterhalt bekamen wir von dem Bastard, weil er sich in irgendein Land in Asien abgeseilt hat.
Aber eigentlich soll ich ja nicht über meine Mutter schreiben, sondern über mich. Wobei ... sie ist ja Teil meines Lebens und das verantwortungslose Arschloch von Vater war es mal. Ach ja, du weißt ja noch nicht einmal, wer ich überhaupt bin.
Mein Name ist Nico, ich bin 17 Jahre alt und hasse mein Leben.Ich legte den Stift beiseite und starrte auf die vielen Worte hinab. Noch vor fünf Minuten hatte ich keine Ahnung gehabt, was ich überhaupt in dieses vermaledeite Ding schreiben sollte und nun hatte ich zwei ganze Seiten vollgeschrieben.
Ein Klopfen unterbrach meine Gedanken und ich schaute auf, als meine Tür aufging. Der Kopf meiner Mutter tauchte dahinter auf.
»Nico, Schatz, ich geh kurz einkaufen und nehme deinen Bruder mit.«
»Okay. Ich muss heute Abend arbeiten, also bin ich zum Abendessen nicht da.«
»Ah, okay, dann werde ich dir dein Essen in den Kühlschrank stellen. Dann kannst du essen, wenn du wiederkommst.«
»Danke, Mom.«
»Kein Problem, hab dich lieb, mein Schatz«, sagte sie mit einem Lächeln und ich erwiderte es.
»Ich dich auch, Mom.«
»Ich auch!«, kam es aus dem Flur hinter meiner Mutter gerufen, bevor sich mein kleiner Bruder auch schon an ihr vorbei ins Zimmer drängelt. Ich schloss das Tagebuch und legte es zur Seite aus der Gefahrenzone, als Finn schon aufs Bett zurannte und sich im nächsten Moment auf mich warf.
Mit einem Lachen fing ich ihn mehr oder weniger auf. Aber so leicht war er mittlerweile auch nicht mehr.
»Dich hab ich natürlich auch lieb, Zwerg! Sei brav mit Mom, okay?«
Er nickte eifrig, bevor er wieder vom Bett kletterte und keine Minute später hörte ich die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fallen.
Mit einem Seufzen lehnte ich mich zurück und sofort rutschte mir mein Lächeln wieder aus dem Gesicht. Mein Blick fiel auf das Tagebuch, bevor ich mich mit einem Seufzen aus dem Bett rollte. Es war Zeit, mich fertig zu machen.Frisch geduscht und umgezogen schnappte ich mir eine dünne Jacke mit Kapuze, meinen Schlüssel und verließ die Wohnung. Alles andere als motiviert, doch was sein musste, musste sein.
Ich brauchte nicht lange zu dem Club, in dem ich arbeitete und meine Schritte wurden mit jedem Meter widerwilliger. Es war nicht so, dass ich meinen Job komplett hasste. Den einen Teil mochte ich sogar recht gern, doch der zweite ...
Als der Club in Sicht kam, zog ich mir die Kapuze über den Kopf, um mich etwas zu verstecken, denn ich wollte ungern, dass mich jemand erkannte oder mit der Person in Verbindung setzte, die ich innerhalb dieses Hauses war. Am Eingang und der wartenden Schlange vorbei, ging ich um das schon ältere Gebäude herum zum Personaleingang.
»Hey, Angel, heute haben wir volles Haus! Ich hoffe, du hast Energie mitgebracht!«, wurde ich begrüßt, kaum, dass ich den Umkleideraum betreten hatte.
Meine ehrliche Antwort war eigentlich "Habe ich nicht", doch ich zwang mir ein lockeres Lächeln auf die Lippen und erwiderte: »Natürlich, Ricky!«
Ricky war genauso wenig sein echter Name wie "Angel" meiner war. Es waren unsere Bühnennamen. Auch wenn es nicht verboten war, dass wir unsere echten Namen wussten, hatte ich ihm meinen nie verraten. Auch wenn ich seinen kannte, nutzte ich trotzdem nur seinen Fake-Namen. Anfangs hatten die anderen Tänzer noch versucht, mir meinen echten Namen zu entlocken, doch schließlich akzeptiert, dass ich ihn nicht verraten würde. Er gehörte nicht in dieses Leben. Nino war ein unschuldiger, junger Schüler, der gerade sein letztes High School Jahr begonnen hatte und noch nicht wirklich wusste, wie es danach weitergehen sollte. Angel dagegen war alles andere als unschuldig. Er hatte einen Job in einem Schwulenclub, wo er Dinge machte, über die meine Mutter maßlos schockiert sein würde. Und er hatte Probleme. Probleme, mit denen Nico nicht klarkommen würde.
Ohne weiteres Zögern zog ich mich für die Gentleman-Nummer um, die als erstes anstand, bevor ich mir meine braunen mittellangen Haare zusammen- und hochband und mit meiner blonden Angel-Perücke Ninos Identität noch mehr versteckte. Nun, es war nur ein Haarfarbenwechsel, doch ich fand selber, dass ich damit wie eine komplett andere Person aussah.
»Drei Minuten«, kündigte mein Chef an. Ich schaute in den Spiegel und erwiderte nahezu ausdruckslos den Blick des jungen Mannes, der mir daraus entgegenblickte, bevor ich tief einatmete und die Schultern straffte.
»Dann wollen wir mal! Kommst du?«, hörte ich Ricky neben mir fragen und ich nickte, bevor ich ihm zur Bühne folgte, vorbei an den anderen fünf Tänzern, die sich bereits für die nächsten Nummern vorbereiteten.
Sobald ich auf der Bühne stand, die Scheinwerfer auf mich gerichtet, blendete ich einfach alles um mich herum aus und konzentrierte mich einzig und allein auf das Tanzen. Denn das war etwas, was ich schon immer geliebt hatte. Meine Mutter hatte mal gesagt, dass ich schon getanzt hatte, bevor ich überhaupt laufen konnte. Es war einfach mein Ding. Es hatte mir schon immer geholfen, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, mich zu erden oder mich von meinen Problemen zu distanzieren. Wobei ich es hier strikt vermied, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, denn die hatten auf der Bühne nichts zu suchen. Stattdessen pflasterte ich mir ein charmantes, neckisches Lächeln aufs Gesicht und bewegte meinen Körper, meine Hüften und besonders mein Becken in aufreizenden, sinnlichen Bewegungen.
Das war der Teil meiner Arbeit, den ich mochte, denn mittlerweile fiel es mir nicht mehr schwer, die ganzen Männer, die ganzen Augen, die auf mir lagen, zu vergessen und einfach nur zu tanzen. Denn ich gehörte weder zu denen meiner Kollegen, die auf der Bühne auch gern mal blankzogen, noch zu denen, die mit den Gästen interagierten.
Als der Song vorbei war, brach Jubel aus, der mich bis hinter die Bühne begleitete, wo ich mich sofort für meine nächste Nummer umziehen wollte.
»Angel! Komm her!«
Ich hielt in der Bewegung inne, als mir eine böse Vorahnung kam, doch gehorchte und ging zu meinen Boss hinüber, der mich aus der Umkleide in den Flur zog.
»Ich habe einen Kunden für dich.«
»Aber die Show ist noch nicht vorbei«, versuchte ich sofort zu protestieren, doch die Miene meines Bosses wurde sofort verärgert.
»Es ist ein gut zahlender Kunde. Vielleicht wird er sogar ein Stammkunde. Kenny wird für dich einspringen. Die Show bringt mir nicht so viel ein wie eine Session.«
Natürlich. Es ging ja immer nur ums Geld. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich dem heute verschont bleiben würde.
Mein Boss schaute immer finsterer drein, als ich weiterhin zögerte, also nickte ich ergeben.
»Wunderbar, Zimmer 3«, sagte er, bevor er die Tür zur Umkleide wieder öffnete und die Stimme erhob, »Kenny, du springst für Angel ein!«
»Alles klar, Boss!«
Mit wieder leiser Stimme wandte er sich ein letztes Mal an mich: »Mach dich fertig, der Kunde wartet in fünf Minuten im Zimmer. Wehe, du lässt ihn warten!«
Und schon war der Abend für mich gelaufen. Der gute Teil vorbei und der allzu gehasste gekommen. Ich biss die Zähne zusammen, doch zog mich eilig um, bevor ich mich im Bad brav vorbereitete. Am liebsten wollte ich einfach abhauen. Einfach wieder heimgehen, mit meiner Mutter und meinem Bruder Abendbrot essen und vergessen, was hier von mir erwartet wurde. Doch das ging nicht. Wir brauchten das Geld. Ich wollte studieren, damit ich irgendwann nicht mehr auf all das hier angewiesen sein musste. Damit ich Karriere machen konnte und nicht jeden Cent doppelt umdrehen musste.
Keine fünf Minuten später, da ich wusste, wie sehr mein Boss Verspätungen hasste, fand ich mich im Zimmer 3 wieder. Noch war es leer, was mir noch ein paar weitere Sekunden Schonfrist erlaubte, in der ich nochmal tief durchatmete. Es war nur Sex. Nur bedeutungsloser Sex.
Ich hörte die Tür knarzen und mit einem neutralen Gesichtsausdruck drehte ich mich herum. Es war ein schon etwas älterer Mann, vielleicht in seinen Ende Vierzigern, der in einem, wie mir schien, maßgeschneiderten Anzug steckte. Dass der Geld hatte, war ihm sofort anzusehen.
Mit einem gierigen Blick in den Augen und einem ekelhaften Grinsen auf den Lippen betrachtete er mich von oben bis unten. Erneut rief ich mir all die Dinge in den Kopf, wegen welchen ich das hier tat.
»Angel, richtig? Ich bin froh, dass du Zeit für mich gefunden hast«, sagte er mit vor Erregung bebender Stimme, während er begann, sich seiner Kleidung zu entledigen. Da hatte es wohl einer eilig ...
Ich selbst war bereits nur noch mit einem String bekleidet, denn die meisten Kunden hassten es, wenn es durch großes Ausziehen nicht gleich zur Sache ging.
Wie so oft folgte danach kein großes Gerede mehr, dafür viel Körperkontakt. Zu meinem Glück stand er nicht auf Vorspiel, weshalb es doch recht schnell ging. Mein Gesicht blieb die ganze Zeit über eine professionelle Maske, während ich mich innerlich mehrfach übergab. Auch wenn ich diesen Teil meiner Arbeit wirklich hasste, kam ich mit jüngeren Kunden noch wesentlich besser zurecht als mit solchen alten Knackern. Er gab ein paar Geräusche von sich, bei denen ich nur hoffte, dass er nicht während des Aktes zusammenbrechen. Oder einen Herzinfarkt bekommen.
Ich schloss erleichtert die Augen, als es endlich vorbei war. Er hatte zwar nicht lange durchgehalten, doch jede Sekunde war eine zu viel gewesen.
Mit schwerem Atem ließ er sich neben mich aufs Bett fallen, bevor er sich das volle Kondom abzog und in den Mülleimer neben dem Bett schmiss.
»Das war gut. Selbst ein Engel im Bett, was? Ich komme auf jeden Fall wieder«, ließ er mich wissen – zu meiner Enttäuschung. Ich verkniff es mir, das Gesicht zu verziehen und schenkte ihm ein anzügliches Grinsen.
»Dann stehe ich gern wieder zur Verfügung«, meinte ich, auch wenn ich lieber etwas ganz anderes gesagt hätte.
Er lachte nur, bevor er sich erhob und zu seiner Hose hinüberging. »Ich habe deinen Boss zwar schon bezahlt, doch möchte dir gern noch etwas mitgeben.«
Da sage ich garantiert nicht nein.
Mit einem charmanten Lächeln nahm ich die fünfzig Dollar entgegen, bedanke mich und ließ ihn wissen, dass ich mich auf seinen nächsten Besuch freute. Ich wartete noch, bis er sich angezogen hatte und aus dem Zimmer verschwunden war, bevor ich mich so schnell wie möglich auf den Weg zum Badezimmer machte, um mir seine Berührungen von der Haut zu waschen.
Nachdem ich ganze dreimal meinen Körper eingeseift und geschrubbt hatte, blieb ich mit geschlossenen Augen unter dem warmen Wasserstrahl stehen. Ich versuchte, das Geschehen möglichst schnell zu verdrängen und lieber darüber nachzudenken, was ich mit dem Geld anstellen würde. Das Gehalt, was ich fürs Tanzen und meine anderen Verdienste von meinem Boss bekam, gab ich immer an meine Mutter weiter, beziehungsweise ging ich selbst einkaufen für Lebensmittel oder andere Sachen, die unsere kleine Familie brauchte. Doch das "Trinkgeld", was ich ab und zu von meinen Kunden bekam, nutzte ich immer ganz allein für mich.
Ich werde mal wieder in das Café gehen, zu dem ich immer gerne gehe. Es ist schon eine Weile her, seit ich dort war.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich an den wundervollen Zimtkakao dachte, den ich dort immer getrunken hatte. Eigentlich eine Weihnachtsaktion, aber Kathy, eine der Kellnerinnen dort, hatte mir immer einen gemacht, egal welche Jahreszeit.
Ich blieb noch ein paar weitere Minuten unter dem warmen Wasser stehen, um es auch wirklich bis aufs Äußerste auszunutzen, bevor ich mich widerwillig von dieser Wohltat trennte und zurück in meine Sachen und meine Jacke schlüpfte. Die Show war mittlerweile fast vorbei, zumindest alle meine Auftritte, weshalb ich mich mit erneut unter der Kapuze versteckten Haaren auf den Heimweg machte.
Zu einem ruhigen Haus, denn meine Mutter und mein Bruder waren längst im Bett, als ich ankam. Müde trat ich mir die Schuhe von den Füßen und ging in die Küche, um mir die Nudeln aufzuwärmen, die im Kühlschrank auf mich warteten.
Ohne großen Hunger stocherte ich eine Weile auf dem Teller herum und zwang mir zumindest die Hälfte rein, bevor ich mich todmüde zu meinem Bett schleppte.
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Liebes Tagebuch ... (bxb)
Любовные романыLiebes Tagebuch. Mein Name ist Nico, ich bin 17 Jahre alt und hasse mein Leben. --- Nico hat es gewiss nicht leicht. Sein Vater ist nach Asien abgehauen und hat ihn, seine Mutter und seinen kleinen Bruder zurückgelassen. Seine Mutter hat kaum Zeit f...