~~ Nico ~~

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Mit großem Unwillen starrte ich auf das Gebäude vor mir. Vor vielen Jahren, bevor mein kleiner Bruder auf die Welt gekommen war, hatte ich es geliebt, in die Schule zu gehen. Ich hatte mich jeden Morgen aufs Neue darauf gefreut, neue Dinge zu lernen und meine Kumpels zu sehen. Ja, damals hatte ich sogar noch Freunde, denn damals hatte ich noch Zeit für Freunde. In der Grundschule waren meine größten Sorgen gewesen, dass ich die anderen Jungs mit irgendwelchen coolen, neuen Fußballtricks beeindrucken konnte.
Heute hatte ich weder Freunde, abgesehen von Peter, noch freute ich mich darauf, in einem engen Klassenzimmer mit achtzehn weiteren Schülern meines Alters zu sitzen. Ach, und Fußball spielte ich auch nicht mehr.
Widerwillig setzte ich mich in Bewegung, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Durch mein "Trinkgeld" des vergangenen Abends hatte ich mir heute früh erlaubt, mir mein heißgeliebtes Lieblingsgetränk zu kaufen. Leider war Kathy nicht da gewesen, um mir meinen perfekten Zimtkakao zu machen, doch dafür konnte ich schlecht den jungen Mann im Café verantwortlich machen. Er hatte sein Bestes gegeben und ich hätte selbst daran denken müssen, zu sagen, dass ich keine Sahne wollte.
Ich betrat das Schulgebäude und kam keine fünf Meter weit, bevor er sich mir in den Weg stellte. Mein Ex. Nicht, dass irgendjemand wusste, dass er das war. Gott bewahre, wenn irgendjemand herausfand, dass er schwul sein könnte! Dann würde die Höhle losbrechen!
Gut, über mich wusste es auch keiner, doch nicht, weil ich es so unbedingt verstecken wollte wie mein Ex. Ich sagte es einfach keinem. Schließlich ging es auch niemanden etwas an. Und außerdem – Heteroleute gingen auch nicht herum und erzählten, dass sie hetero waren. Warum sollte ich es dann tun müssen?
»Guten Morgen!«, begrüßte mich Justin mit einem fast fiesen Grinsen.
»Bis eben war er das tatsächlich noch«, erwiderte ich nur gelangweilt und hoffte, dass er mich einfach in Ruhe lassen würde.
Sein Grinsen verschwand. »Ich will dich nur an unsere Abmachung erinnern.«
»Welche Abmachung?«, fragte ich, nur um ihn zu ärgern.
Wie erwartet verspannte sich sofort sein Unterkiefer.
»Du weiß genau welche«, brummte er düster.
»Ach ja«, gab ich vor, mich plötzlich zu erinnern und schlug die Hand gegen die Stirn, »Du meinst die Abmachung, nach der ich niemanden verraten soll, dass du auf Schwänze stehst.«
Sofort flog sein Blick panisch in alle Richtungen, aber es war niemand in der Nähe. Ich konnte durchaus ein Arschloch sein, aber ich gehörte nicht zu der Art, die jemanden gegen seinen Willen outete.
»Keine Angst, ich nehm's mit ins Grab«, versprach ich knapp, bevor ich einfach einen Bogen um ihn machte und weiterging. Drei Schritte, bevor ich unsanft am Rucksack zurückgezogen wurde.
»Ich warne dich, Nico! Du hast keine Ahnung, was ich mit dir machen werde, sollte erneut auch nur ein Wort in diese Richtung über deine Lippen kommen!«
Ich blieb ruhig, ließ ihn noch zwei lange Sekunden lang in mein Ohr atmen, bevor er mich endlich freigab und davon marschierte.
Mit einem Blick über die Schulter schaute ich ihm nach. Dieses Gangstergetue war eins der Dinge, warum es mit uns nicht funktioniert hatte. Neben dem großen Grund, dass er sich nicht outen wollte, um zu mir zu stehen. Wie gesagt, ich würde niemanden dazu zwingen, sich zu outen. Doch genauso wenig würde ich zulassen, dass andere mich zwangen, meine Gefühle zu verstecken. Auch wenn ich schon etwas Schiss davor hatte, aus dem Schrank zu klettern, wollte ich keine Beziehung im besagten Schrank führen.
Nicht weiter darüber nachdenkend machte ich mich auf den Weg zur ersten Stunde und suchte mir einen freien Platz möglichst weit hinten im Raum.
Es dauerte nicht lange, bevor mein bester Freund ebenfalls den Raum betrat. "Bester Freund" war vermutlich eine recht übertriebene Beschreibung, aber er war mein einziger Freund. Mit ihm verbrachte ich den Großteil meines Schulalltags. Aber das war es auch schon. In dem einen Jahr, das wir uns nun schon kannten, hatten wir uns vielleicht nur eine Handvoll Male außerhalb der Schule getroffen. Ich hatte einfach keine Zeit. Mit der Schularbeit, dem Haushalt, meinem Bruder und meinem Job – da blieb einfach nicht viel Zeit für Freunde und Freizeit.
»Morgen Nico!«
»Morgen Peter, wie war der Geburtstag deiner Schwester?«
Mit einem Stöhnen ließ sich Peter auf dem Stuhl neben mir sinken. »So! Anstrengend! Gott, diese ganzen kleinen Gören! Ich hab's kaum ausgehalten!«
Ich lachte. »So schlimm?«
Mit todernsten Augen schaute er mich an. »Schlimmer.«
»Dann kann ich wohl froh sein, keine kleine Schwester zu haben.«
»Oh ja! Ein kleiner Bruder ist mit Sicherheit besser als diese nervige, kleine Ausgeburt der Hölle! Und sie ist erst fünf! Stell dir erstmal vor, wie es werden wird, wenn sie in die Pubertät kommt! Zum Glück werde ich dann nicht mehr zuhause leben.«
Ich konnte Peters Meinung nicht ganz nachvollziehen, denn obwohl auch Finn manchmal echt nervig sein konnte, vor allem wegen seines ADHS, würde ich ihn nie als "Ausgeburt der Höhle" bezeichnen.
Zu einer Antwort kam ich nicht mehr, denn da betrat der Lehrer den Raum und begann mit seinem Unterricht.

Liebes Tagebuch ... (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt