~~ Dylan ~~

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Ich zog meine Kapuze weiter ins Gesicht, um mich gegen den Regen zu schützen. Ich hatte den ganzen Tag in der Uni verbracht und die ganze Zeit hatte es nicht einen Tropfen geregnet. Aber sobald ich die Universität verlassen hatte, waren die Tropfen gefallen und begleiteten mich auf dem gesamten Weg zum Tierheim. Glücklicherweise saß ich einen Großteil davon in der Bahn.
Ein Klingeln ging durch das Gebäude, als ich Sarahs Reich betrat, doch es war nicht Sarah, die mich begrüßte, sondern Finn.
»Dylan!«, rief Finn begeistert, als er mich sah.
»Hey Finn, alles klar, kleiner Mann?«, fragte ich mit einem Lächeln, obwohl Finns Anwesenheit bedeutete, dass Nico auch hier sein musste, und ich wusste nicht wirklich, ob ich bereit war, ihn zu sehen.
Es war Mittwoch und somit drei Tage her, seit ich ihn auf dieser Bühne tanzen gesehen hatte. Noch immer wusste ich nicht wirklich, was ich davon halten sollte, obwohl es kaum eine Minute gab, in der ich nicht darüber nachgedacht hatte. Es war ein Schock gewesen, ihn dort so leicht bekleidet tanzen zu sehen. Vor all diesen Männern.
Jeden Tag gingen mir seine Worte, seine Erklärung durch den Kopf und ich fühlte zugleich Trauer, Mitgefühl und Entsetzen. Ich hatte sogar darüber nachgedacht, meinem Vater von diesem Club zu erzählen, davon, dass der Betreiber einen Minderjährigen für sich tanzen ließ. Doch ich hatte nichts gesagt, denn ich wollte Nico nicht in Schwierigkeiten bringen.
Nein, eigentlich wollte ich ihn nur in den Arm nehmen und trösten und beschützen. Und trotzdem hatte ich seit dem Vorfall nicht mit ihm gesprochen. Zum Einen, weil mich die Uni gerade einspannte und zum anderen, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Wir hatten am Sonntag kurz miteinander geschrieben. Nachdem er mir zahlreiche Nachrichten geschickt und versucht hatte, mich anzurufen, wie ich nur zwei Tage davor. Er hatte sich erneut erklären wollen, doch ich hatte nur geschrieben, dass ich etwas Zeit zum Nachdenken brauchte, und seitdem kam nichts mehr von ihm. Oder von mir.
»Dylan, hey, schön, dass du mal wieder vorbeikommst! Viel Stress mit der Uni?«, ertönte plötzlich Sarahs Stimme und riss mich wirkungsvoll aus meinen Gedanken und ich stellte fest, dass Finn nicht mehr im Raum war.
»Finn ist zu den Katzen gerannt«, sagte Sarah, als sie meinen Blick richtig deutete.
»Hey, ja, die Uni ist gerade anspruchsvoll«, antwortete ich auf ihre Frage.
Sarah nickte, bevor sie mich fragend betrachtete. »Was ist passiert?«
»Was meinst du?«
»Zwischen dir und Nico?«
»Warum denkst du, dass etwas passiert ist?«
Sie zog nur eine Augenbraue hoch, um mir zu sagen, dass ich aufhören sollte, mich so anzustellen. »Er ist bei Toffee. Ich muss zurück zu Finn, verhindern, dass er es mit dem Spielen übertreibt. Er ist manchmal etwas übermütig.«
Damit verschwand sie auch schon wieder in Richtung Katzenzimmer.
Ich zögerte, doch wandte mich dann in Richtung Hundeflügel. Leise betrat ich den Raum, in dem derzeit nur Roger und Toffee untergebracht waren. Nico saß am anderen Ende des Raumes auf dem Boden mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, während Toffee auf seinem Schoß saß und sich kraulen ließ. Er sah scheiße aus. Nico, nicht Toffee, denn diesem ging es tatsächlich jeden Tag besser.
Ich klopfte leicht gegen den Türrahmen, woraufhin Nico sofort aufschaute. Seine Haare waren ein einziges Wirrwarr und unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Er sah müde und fertig aus.
Als er mich sah, weiteten sich seine Augen, bevor er Toffee beiseiteschob und eilig aufsprang.
»Tut mir leid, Finn wollte unbedingt herkommen. Ich will dir deinen Platz hier nicht wegnehmen, keine Sorge, ich geh sofort.«
Und tatsächlich machte er Anstalten, den Raum eilig zu verlassen.
»Das musst du nicht.«
Er blieb stehen, bevor er zu mir hinübersah.
»Das ist nicht mein Tierheim. Du kannst herkommen, wann immer du möchtest«, sagte ich, denn was auch immer zwischen uns war, es sollte ihn niemals davon abhalten, herzukommen.
Er senkte den Blick. »Danke, aber ich möchte nicht, dass du dich unbehaglich fühlst«, sagte er, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Doch als er an mir vorbeigehen wollte, hielt ich ihn am Arm zurück.
»Nico ...«, begann ich, doch wusste nicht, was ich sagen sollte. Nach einem Moment des Schweigens, in dem wir uns nur gegenseitig anschauten, entschied ich mich für: »Alles okay? Du siehst scheiße aus.«
Ich bereute meine Wortwahl sofort, nachdem die Worte meinen Mund verlassen hatten. Nicos Miene verhärtete sich.
»Mir geht's gut, danke der Nachfrage«, meinte er mit matter Stimme, die seiner Worte Lügen strafte. Dann befreite er sich aus meinem Griff und verließ das Zimmer.
Toll gemacht, Dylan!
»Nico, warte!«
Er blieb tatsächlich stehen, doch drehte sich nicht zu mir herum.
»Tut mir leid, war nicht so gemeint.«
»Doch war es und ich weiß, dass ich scheiße aussehe. Ich kann nur ... nicht gut schlafen im Moment.«
Und erneut wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Das war eine beschissene Situation!
Nun drehte sich Nico doch noch einmal zu mir um. Er sah aus wie ein geschlagener Welpe.
»Du musst nicht nett zu mir sein. Du musst gar nicht mit mir reden. Sicher findest du mich abstoßend nach dem, was du gesehen hast, und ich kann es dir nicht verdenken. Aber wenn du ... ich versteh es und wenn du nichts mehr mit mir zutun haben möchtest, dann werde ich das akzeptieren. Fühl dich also nicht gezwungen, mit mir zu reden. Es tut nur weh.«
Damit wandte er sich wieder ab und ging eilig davon, während ich noch seine Worte verarbeitete. Abstoßend? Ich fand ihn doch nicht abstoßend! Ich meine, sein Job war definitiv ... befremdlich für mich, aber ich fand ihn deswegen nicht abstoßend? Nein. Und ich wollte mit ihm reden. Ich wusste nur nicht, was ich sagen sollte.
Ich setzte mich in Bewegung, um ihm hinterherzueilen, doch als ich im Foyer ankam, waren Finn und Sarah bei ihm. Also hielt ich den Mund und schaute nur zu, wie die zwei Brüder das Tierheim verließen.
»Also, raus mit der Sprache. Habt ihr euch gestritten?«, fragte Sarah, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war.
Ich schüttelte leicht den Kopf. »Nein, nicht wirklich.«
»Was dann?«
»Das ist schwer zu erklären. Nein, eigentlich ist es das nicht, aber es ist persönlich.«
Sarah sah durch meine Worte nur noch neugieriger aus, doch sie nickte statt nachzuhaken, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.
»So, Zeit, etwas auszuhelfen?«, fragte sie.
»Ja.« Ja, denn ich musste mich ablenken.

Es war schon dunkel, als ich mich auf den Weg nach Hause machte. Ich kramte mein Handy aus der Tasche, als ich in der Bahn saß und öffnete den Chat mit Nico. Die letzte Nachricht war ein Okay von ihm auf meine Bitte, mir Zeit zum Nachdenken zu geben. Seitdem hatte weder er noch ich etwas geschrieben und mir wurde klar, dass er vermutlich all die letzten Tage auf eine Nachricht von mir gewartet hatte. Nein, nicht vermutlich, ganz wahrscheinlich. Doch ich hatte nichts geschrieben. Und er hatte es so aufgenommen, wie es aussah. Als wollte ich nichts mehr mit ihm zutun haben.
Ich seufzte, bevor ich die Tastatur öffnete und zu schreiben begann.
»Hey, um das gleich klarzustellen: Ich finde dich nicht abstoßend! Ich habe definitiv daran zu knabbern, dass du«
Ich stoppte, bevor ich den letzten, angefangenen Satz wieder löschte.
»Hey, um das gleich klarzustellen: Ich finde dich nicht abstoßend! Zwar ist dein Job«
Wieder löschte ich die letzten Wörter.
»Hey, um das gleich klarzustellen: Ich finde dich nicht abstoßend! Tatsächlich bist du ein echt guter Tänzer!«
»Um Himmels Willen!«, gab ich leise von mir, als ich abermals die Löschtaste betätigte, bevor ich den Kopf in den Nacken legte. Wie sollte ich das schreiben? Was sollte ich schreiben?
»Hey, um das gleich klarzustellen: Ich finde dich nicht abstoßend! Und ich will nicht nichts mehr mit dir zutun haben. Ich weiß einfach nicht wirklich, was ich sagen soll. Aber wir sollten reden. D«
Bevor ich mich wieder umentscheiden konnte, schickte ich die Nachricht ab. Der erste Haken tauchte auf, doch der zweite kam nicht dazu, was bedeutete, dass sein Handy aus sein musste. Oder im Flugmodus.
Ich seufzte erneut, als ich mich zurücklehnte.


Liebes Tagebuch ... (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt