~~ Dylan ~~

89 9 3
                                    

»Okay, Lennys Buch, Bahnkarte und Schlüssel, ich denke, ich habe alles«, murmelte ich zu mir selbst, als es an der Tür klingelte.
»Ja?«, fragte ich in die Gegensprechanlage.
»Hey, ich bin's«, antwortete mir Nico.
»Ich komm runter, warte«, erwiderte ich, bevor ich die Wohnung verließ. Ich wusste nicht, dass Nico kommen wollte.
»Hey, du versteckst doch nicht etwa deinen Lover in der Wohnung?«, fragte Nico mit einem Grinsen, als ich die Haustür öffnete.
Ich lachte, bevor ich ihm einen Kuss gab. »Nein, aber ich wünschte, du hättest gesagt, dass du kommst, denn ich wollte gerade los, Lenny besuchen.«
»Oh, tut mir leid, ich hätte Bescheid sagen sollen. Kein Problem, dann geh ich wieder heim«, meinte Nico bemüht lässig, doch ich sah die Enttäuschung in seinen Augen.
»Willst ... willst du mitkommen?«
Seinen Augen weiteten sich ein Stück. »Ähm, ich weiß nicht. Bist du dir sicher?«
Ich nickte. »Klar, ich möchte, dass du ihn kennenlernst und er dich. Aber natürlich nur, wenn du möchtest.«
»Wenn das wirklich in Ordnung ist, dann gern.«
Mit einem Lächeln nahm ich seine Hand und drückte noch einmal kurz meine Lippen auf seine. »Dann los, bevor wir die Bahn verpassen.«
Tatsächlich kamen wir gerade noch rechtzeitig zur Haltestelle.
»Glück gehabt«, sagte Nico, als wir uns einen Platz in dem recht leeren Zug suchten, der uns zumindest etwas Privatsphäre gab. Ich wollte Nico etwas mehr erzählen, bevor er meinen Bruder traf. Ihn vorbereiten.
»Du hast die letzten Tage nicht nachgefragt«, begann ich.
Nico warf mir einen Blick zu, doch schien zu verstehen, was ich meinte.
»Es ging mich nichts an. Das war private Familiensache und ich werde dich gewiss nicht darüber ausfragen. Versteh mich nicht falsch, ich bin neugierig, aber ich werde ...«
Ich lächelte, doch musste ihn unterbrochen. »Nico, ist in Ordnung. Ich danke dir dafür, dass du mir etwas Zeit gegeben hast die letzten Tage. Es war definitiv nicht leicht für mich, zu hören und zu sehen, dass mein Bruder versucht hat, sich umzubringen. Zum zweiten Mal.« Ich schluckte und holte einen Moment tief Luft, um den Schock und die Trauer der letzten Tage nicht wieder Herr über mich werden zu lassen. »Ich danke dir auch, dass du an dem Tag mitgekommen bist.«
»Obwohl ich nicht wirklich was getan habe ...«
»Doch, du hast etwas getan. Du warst da. Und ich bin dir wirklich dankbar dafür.« Ich lehnte meinen Kopf an den Sitz, bevor ich mit leiser Stimme fortfuhr. »Es ist etwas mehr als zwei Jahre her, als er es das erste Mal versucht hat. Er wurde ... er war Opfer eines Angriffs, doch er hatte es niemanden erzählt. Natürlich hatte ich gemerkt, dass er sich anders verhielt, aber er war vierzehn. Ich habe es darauf geschoben, dass er ein Teenager wurde, aber ... ich lag falsch. Ich war derjenige, der ihn fand.« Ich schloss die Augen, doch öffnete sie sofort wieder, als die schrecklichen Bilder auftauchten.
Ich spürte Nico Hand an meinem Arm und schaute ihn an.
»Ich habe es nicht gemerkt. Nicht gemerkt, wie schlecht es ihm ging. Bis es zu spät war. Wäre ich nur etwas später heimgekommen ...«, ich brach ab, denn ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Doch es war klar, was ich sagen sollte. Mein Blick auf seine Hand an meinem Arm gerichtet, fuhr ich fort. »Er hat es überlebt, doch er war nicht mehr der Lenny, denn ich aus unserer Kindheit kannte. Nein, das stimmt nicht ganz. Er ist immer noch Lenny, doch ... der Arzt nennt es Eskapismus. Eine extreme Form davon.«
»Eskapismus?«, fragte Nico.
»Er hat sowas wie Tagträume, aber nicht wie wir, sondern er lebt oft wirklich in einer anderen Welt. Die meiste Zeit zieht er sich aus dieser, unserer Welt zurück und lebt in einer von ihm erschaffenen Welt. Oder er liest.«
Ich sah Nico an, dass er versuchte, zu verstehen, was ich meinte. Auch ich hatte anfangs meine Probleme damit gehabt.
»Du wirst es verstehen, wenn du ihn trifft«, sagte ich nur und er nickte.
»Deswegen lebt er dort?«
Ich nickte. »Ja, dort bekommt er seine tägliche Therapie und man kann sich rund um die Uhr um ihn kümmern.« Ich zögerte. »Nun, du weißt, was ich meine.«
Nico nickte nur, bevor seine Hand von meinem Arm in meine Hand schlüpfte und er sie drückte.

Zwanzig Minuten später standen wir vor Lennys Tür. Er hatte vorübergehend das Recht verloren, in die Bibliothek zu gehen, vor allem nachdem er den Nagel, mit dem er sich verletzt hatte, von dort hatte.
Ich öffnete die Tür, Nico noch immer an der Hand. Lenny lag auf dem Bett, uns den Rücken zugewandt.
»Hey Lenny«, begrüßte ich ihn leise, da ich nicht wusste, ob er schlief, doch er drehte sich sofort um und setzte sich auf.
»Dylan!«, rief er begeistert, bevor sein aufgeregtes Lächeln in sich zusammenfiel, als er Nico erblickte. »Wer ist das?«
Nico blieb abrupt stehen, als er Lennys unfreundlichen Ton hörte.
»Vielleicht sollte ich doch lieber draußen ...«, begann er, doch ich unterbrach ihn wieder.
»Das ist Nico. Nico, mein kleiner Bruder Lenny. Lenny, mein Freund Nico.«
»Dein ... Freund?«, fragte Lenny.
Ich nickte und lächelte. »Ja, ob du es mir glaubst oder nicht, aber dieser hübsche Kerl ist mein fester Freund.«
Lenny musterte Nico noch einen Moment abschätzend, schaute dann zwischen mir und ihm hin und her, bevor er nickte. »Ja, er ist hübsch.«
Mit einem Grinsen sah ich zu Nico und wie erwartet, färbten sich seine Wangen leicht rot. Er war nicht gut darin, Komplimente anzunehmen.
Ich zog ihn zu mir und gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich uns zu den zwei Stühlen neben Lennys Bett lotste.
»Wie geht es meinem Lieblingsbruder heute?«, fragte ich und Lenny rollte mit den Augen.
»Ich bin dein einziger Bruder.«
»Trotzdem mein Lieblingsbruder.«
Lenny schüttelte nur mit dem Kopf, doch konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Hast du das Buch dabei?«
»Natürlich!«, sagte ich und kramte es aus meiner Tasche.
Begeistert nahm er es entgegen.
»Eragon?«, fragte Nico neben mir, als er das Buch sah und Lenny nickte begeistert.
»Meine Lieblingsreihe!«
»Ja, die war echt toll«, stimmte Nico zu und löste damit eine anregende Diskussion über Drachen und Lieblingscharaktere los. Da ich das Buch nicht kannte, konnte ich nicht wirklich mitreden, weshalb ich nur beobachtete, während die beiden enthusiastisch miteinander über das Buch sprachen. Allerdings bekam ich eine Ahnung, woher Lenny all die Ideen für unsere Abenteuerreisen nahm.
»Dylan, wir müssen Nico mit uns nehmen bei unserem nächsten Angriff! Mit ihm besiegen wir sicher den bösen Magier!«, meinte Lenny begeistert und Nico warf mir einen fragenden Seitenblick zu.
»Ich denke, das sollten wir wirklich.«
Es klopfte an der Tür und eine Betreuerin betrat das Zimmer.
»Ich möchte euch nicht stören, doch Lenny hat in fünf Minuten einen Termin.«
»Okay, kein Problem«, erwiderte ich, während Lenny enttäuscht dreinschaute.
Die Betreuerin nickte und ließ uns wieder allein.
»Du kommst doch das nächste Mal wieder mit, oder Nico? Du musst! Du musst doch Kjarilo kennenlernen!«
»Kjarilo?«, fragte Nico.
»Ja, mein Drache. Er ist supercool! Natürlich ist er rot!«
Nico schien noch immer etwas verwirrt, doch lächelte. »Sehr gern.«
Lenny jubelte. Nicht so kindlich wie Finn es machte, aber auch nicht seines biologischen Alters entsprechend.

Liebes Tagebuch ... (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt