~~ Dylan ~~

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»Hallo Dylan, schön dich mal wieder zu sehen! Wie geht es dir?«, begrüßte mich Lisa, als ich die psychiatrische Anstalt in Nashville betrat.
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Hallo, Lisa! Mir geht's so weit gut. Viel zu tun zurzeit.«
»Wie ist das Studium?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es war schon erstmal ziemlich viel auf einmal, aber ich habe mich langsam daran gewöhnt.«
»Freut mich, zu hören!«
»Wo ist er heute?«
Sie schenkte mir nur einen Blick und ich sofort wusste ich die Antwort auf meine Frage.
»Also in der Bibliothek«, sagte ich, während ich mich in die Besucherliste einschrieb, bevor ich mich bei ihr bedankte und in den Gang einbog, der mich zum absoluten Lieblingsort meines Bruders führte. Der Bibliothek. Mal sehen, wie viele Bücher er seit meinem letzten Besuch geschafft hat.
Ich brauchte nicht lange, um Lenny zu finden. Es war auch nicht sonderlich schwer. Erstens war er der Einzige in der zugegeben recht kleinen Bibliothek und zweitens saß er beim Lesen, wie schon sein ganzes Leben lang, auf der Fensterbank. Das hatte ich nie verstanden. Es war alles andere als bequem, auch wenn er sich ein Kissen unter den Po legte, doch er liebte den Platz, insbesondere, wenn die Sonne hineinschien.
»Was liest du dieses Mal?«, fragte ich, in der Hoffnung, gleich seine Aufmerksamkeit zu erregen, denn manchmal war er so vertieft in ein Buch, dass er nichts um sich herum wahrnahm. In solchen Momente blieb mir nichts anderes, als in durch eine Berührung auf mich aufmerksam zu machen, obwohl ich wusste, wie sehr er Berührungen hasste.
Glücklicherweise war das dieses Mal nicht nötig, denn mit einem Lächeln auf den Lippen schaute er auf.
»Dylan!«
Ich schenkte ihm ein Grinsen und ein Augenbrauenwackeln, bevor ich mich neben ihn an die Fensterbank lehnte.
»Na, wie geht es meinem kleinen Bruder? Hat dich dein Drache noch immer nicht geholt?«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Nein, er ist immer noch in Gefangenschaft der bösen Elfen. Wir brachen deine Hilfe, um ihn zu befreien!«
»Gut dann, dass ich da bin. Was ist der Plan?«
Mit einem mehr als entschlossenen Ausdruck im Gesicht, so als würden wir uns wirklich gleich in ein großes Abenteuer stürzen, klappte er sein Buch zu und sprang vom Fensterbrett, um zu unserem Fantasyreise-Teppich hinüberzugehen und sich im Schneidersitz darauf niederzulassen. Ich folgte seinem Beispiel, bis wir uns Knie an Knie gegenübersaßen.
»Lisa ist noch immer schwer verwundert und kann uns leider nicht helfen, also müssen wir das allein schaffen. Während du weg warst, habe ich das ganze Geschehen am Hof ausspioniert und einen geheimen Seiteneingang gefunden, der sich allerdings nur von innen öffnen lässt. Du wirst die Wachen am Haupttor ablenken, damit ich mich ins Schloss schleichen kann, dann lass ich dich durch den versteckten Seiteneingang herein. Und danach müssen wir hinunter in die Kerker, denn der dunkle Magier hat Kjarilo dort versteckt.«
Ich nickte mit ernster Miene. Egal, wie komisch sich das für Außenstehende anhören mochte, was mein mittlerweile sechszehnjähriger Bruder hier von sich gab, für ihn war es wichtig und vielleicht sogar realer, als der Teppich, auf dem wir saßen. Sein Arzt nannte es "maladaptives Tagträumen". Es war etwas, was noch nicht wirklich erforscht war. Für Lenny war es sein persönlicher Schutzmechanismus. Eine Fantasywelt, die er vor einigen Jahren erschaffen hatte, um jederzeit dorthin zu flüchten, wenn ihm die Realität zu viel wurde oder ihn die Vergangenheit einholte.
Während er mir seinen genauen Plan zur Rettung seines Drachen Kjarilo erklärte, wanderten meine Gedanken unfreiwillig zurück zu der Zeit, als das Ganze angefangen hatte. Zwei Jahre war es her, seit mein kleiner Bruder versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.
Als ich die Tränen in meinen Augen spürte, wandte ich eilig den Blick ab, doch nickte weiterhin, um zu zeigen, dass ich ihm noch zuhörte.
Reiß dich zusammen, Dylan!
Energisch blinzelte ich die Tränen weg.
»Hast du alles verstanden?«
Ich nickte erneut, schaute Lenny wieder an und zwang mir ein Lächeln auf. »Lass uns deinen Drachen befreien!«
Mein Satz wurde mit einem Strahlen seinerseits belohnt, bevor er nach meinen Händen griff und die Augen schloss.
Und los ging das Abenteuer!

»Dylan, pass auf, da ist ein Wächter!«
»Verdammt!«, zischte ich, auch wenn ich keinen Wächter sah. In Gedanken stellte ich mir einfach ein Mann aus der Fernseherserie vor, die ich vor ein paar Wochen gesehen hatte. Ein Mann in Rüstung und mit einem Schwert in der Hand. Wir hatten es mit etwas Glück und Lennys guter Schwertarbeit tatsächlich ins Schloss des dunklen Magiers geschafft und waren nun auf dem Weg in den Kerker, doch immer wieder kreuzte sich unser Weg mit denen der Wächter des Magiers. Lenny nach waren wir schon mehrfach fast erwischt worden, weil ich mich zu dämlich anstellte. Gut, dass er mich liebte, sonst wäre ich wohl schon längst entdeckt und geköpft worden.
»Dylan, da ist der Eingang zu den Kerkern. Ich werfe ihnen die Schlafbombe zu.«
»Sei vorsichtig!«, warnte ich.
Ein paar Sekunden herrschte Stille und ich wollte schon die Augen öffnen, um zu schauen, ob Lenny noch bei mir war, als er lachte.
»Es hat funktioniert! Sie sind umgefallen, wie Säcke voll Kartoffeln!«
Das brachte mich zum Schmunzeln! »Dann lass uns deinen Drachen suchen!«
Wir brauchten sicher noch eine Viertelstunde, bis wir endlich an der richtigen Zelle ankamen. Lennys Drachen war seinen Beschreibungen nach, mittlerweile alles andere als klein, aber anscheinend passte er noch in eine Kerkerzelle.
»Dylan, ich brauche dich für das Schloss!«
Ach ja, hatte ich schon erwähnt, dass ich ein begnadeter Schlossknacker war?
»Das Schloss ist nicht ganz einfach. Gib mir eine Minute.«
»Beeil dich! Ich höre schon die Wachen!«
»Ich habe es geschafft!«
»Kjarilo!«
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Lenny seinem roten Feuerdrachen um den Hals fiel. Ein Drache, der mittlerweile doppelt so hoch war wie er.
»Lenny, wir sollten uns beeilen, bevor sie uns finden!«, meinte ich mit einer guten Portion Nervosität in meiner Stimme.
»Du hast recht! Ich kann sie hören, sie kommen immer näher.«
Ich hörte nur ein leises Knarzen und öffnete die Augen, um zu Lisa hinüberzuschauen, die den Raum betreten hatte und die Tür so leise wie möglich hinter sich schloss. Selbst wenn sie das nicht versucht hätte, hätte Lenny vermutlich nichts von ihrer Ankunft mitbekommen, denn er war völlig in seiner Welt verschwunden.
Mit etwas Abstand zu uns ließ sich Lisa ebenfalls auf dem Teppich nieder und ich nickte ihr kurz zu, bevor ich die Augen schloss und mich wieder auf Lennys Worte konzentrierte.
Auf dem Weg zurück aus dem Schloss kamen wir wesentlich schneller voran als vorneweg, denn nun versteckten wir uns nicht länger, sondern rannten durch die Gänge und kämpften mutig gegen alle Wächter, die sich uns in den Weg stellten – wobei ich sogar etwas verletzt wurde. Doch wir schafften es schließlich noch in einem Stück aus dem geheimen Zugang hinaus in die Freiheit, wo wir auf Kjarilos Rücken kletterten und mit ihm davonflogen. Zurück zu der verletzten Lisa.
»Wir sind zurück! Wir haben es geschafft!«, jubelte Lenny schließlich.
»Oh Gott sei Dank, euch geht es gut!«, mischte sich Lisa mit besorgter Stimme ein.
»Lisa!«, rief Lenny überrascht aus, »Was machst du schon auf den Beinen! Du musst dich ausruhen!«
»Mir geht es schon viel, viel besser. Die Brennnesselsalbe hat wirklich Wunder gewirkt.«
Brennnesselsalbe? Das war wohl etwas, was passiert war, als ich nicht da gewesen war.
»Hab ich doch gesagt! Und du wolltest mir nicht glauben!«, beschwerte sich Lenny fast schon trotzig.
Ich grinste, als Lisa erwiderte: »Ich werde nie wieder an dir zweifeln!«

Noch eine ganze Weile saßen wir zusammen und sprachen über zukünftige Pläne, um den dunklen Magier und seine Elfen zu besiegen, bevor ich Lenny leider sagen musste, dass mich die Arbeit rief. Er war enttäuscht, doch verlegte prompt weitere gemeinsame Abenteuer auf später. Und bevor ich mich versah, saß er wieder beim Fenster und steckte die Nase in sein Buch. Vermutlich, um weitere Ideen für die nächsten Abenteuer zu sammeln. Ich sollte ihm das nächste Mal neuen Lesestoff mitbringen.
Gemeinsam mit Lisa verließ ich die kleine Bibliothek, damit er seine Ruhe hatte.
»Wie läuft es mit seiner Therapie?«
Lisa seufzte leise. »Keine wirklichen Fortschritte. Er hat seine täglichen Sessions und geht auch hin, doch ist geistig nicht immer ganz da. Er verbringt noch immer den Großteil seines Tages in seiner Welt. Den Rest der Zeit liest er.«
Ich nickte verstehend. Also alles wie bei meinem letzten Besuch.
»Und ... irgendwelche Anzeichen?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt keine Anzeichen dafür, dass er wieder daran denkt, sich ... wehzutun.«
Ich atmete tief durch. Erleichtert, auch wenn ich mir wünschte, dass er Fortschritte machte. Doch solange er nicht mehr daran dachte, Selbstmord zu begehen, war alles andere verschmerzbar.
»Und? Wie läuft es bei dir, jetzt, wo du in der Großstadt lebst?«, versuchte Lisa das Thema zu wechseln und ihr Tonfall machte mir sofort klar, was sie meinte.
»Bin immer noch schwul.«
»Schade«, meinte sie enttäuscht, doch grinste mich an. Seit wir uns kannten, versuchte sie mich dazu zu überreden, mit ihr auf ein Date zu gehen, obwohl ich ihr gleich zu unserer ersten Begegnung klar gemacht hatte, dass ich dafür am falschen Ufer saß.
»Nun, da ist ein Junge ...«, begann ich.
»Oh! Erzähl mir mehr!«
Ich zuckte mit den Schultern. »Er kommt an und zu ins Café und ist echt süß, aber ich glaube, er ist hetero.«
»Als ob dich das aufhalten würde!«
Ich schenkte ihr einen empörten Blick. »Für wen hältst du mich? Ich habe noch nie jemanden umgekehrt!«
Sie schenkte mir ein vielsagendes Zwinkern. »Es gibt für alles ein erstes Mal.«
Ich schüttelte nur den Kopf.
Seit unserem ersten Treffen hatte ich Zimtkakao-Nico noch zwei weitere Male im Café getroffen. Einmal hatte er schon dagesessen und gelesen, als ich zu meiner Schicht kam. Und das zweite Mal kam er für einen Zimtkakao to go vorbei, den dieses Mal allerdings Kathy zubereitet hatte. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte nicht genau zugeschaut, wie sie den Kakao zubereitet hatte. Und während ich nur ein recht knappes Nicken als Begrüßung bekommen hatte, war Kathy mit einem großen Lächeln belohnt worden. Das hatte mich in meiner Annahme, dass er hetero war, nur bestätigt.
»Ich sollte ihn einfach nach einem Date fragen und wenn er ablehnt, dann werde ich das Thema einfach abhaken.«
Lisa nickte. »Zumindest versuchen solltest du es. Wer weiß, vielleicht steht er ja auf Männer, nur weiß es noch nicht.«
Ich zuckte nur mit der Schulter.
Vielleicht.

Nach meinem Besuch in der Klinik machte ich noch einen ganz kurzen Stopp beim Tierheim, um zu sehen, was meine Fellfreunde so machten.
»Hallo Sarah! Wie geht es dir?«
»Hey Dylan, soweit gut, nur etwas müde, denn wir haben gestern einen schweren Fall reinbekommen. Ein angefahrener Hund. Wurde einfach am Wegesrand liegen gelassen.«
Mein Kiefer verspannte sich, als ich das hörte. Menschen waren wirklich grausam! Wie konnte man ein armes, verletztes Tier einfach am Wegesrand liegen lassen?
»Wie geht es ihm?«
»Den Umständen entsprechend gut. Er hatte innere Blutungen und ein gebrochenes Bein. Eine Querfraktur. Ich habe ihn noch heute Nacht notoperiert, dabei ist alles gut gelaufen. Mit Ruhe und etwas Zeit wird er wieder. Es wird nur schwierig werden, ihn daran zu hindern, sich zu viel zu bewegen. Er ist noch recht jung.«
»Gehört er jemanden?«
»Ich weiß es nicht. Er hatte auf jeden Fall eine, doch sein Fell wirkt, als wäre es seit ein paar Wochen nicht mehr gepflegt worden. Ich habe eine Meldung rausgegeben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er ein Ausgestoßener ist.«
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf. »Ich verstehe solche Menschen einfach nicht.«
»Ich auch nicht. Glaub mir.«
»Dann bin ich auf jeden Fall gespannt darauf, den kleinen Kerl kennenzulernen. Weswegen ich aber eigentlich hier bin: Ich wollte Roger morgen mal wieder mit zum Hundepark nehmen, wenn das in Ordnung ist.«
Sarah lächelte. »Sehr gern, er wird sich freuen.« Ihr Lächeln wurde traurig. »Dylan ... ich möchte ehrlich mit dir sein, ich glaube, Roger wird es nicht mehr lange machen. Er ist am Ende seiner Tage angekommen.«
Ich nickte. »Ich weiß.« Auch wenn ich es nicht ganz wahrhaben wollte, wusste ich, dass Roger nicht mehr lange durchhalten würde. Er hatte schließlich bereits ein stolzes Alter auf dem Buckel.
»Ich werde mir noch so viel Zeit wie möglich für ihn nehmen«, versprach ich Sarah und sie schenkte mir einen mütterlichen, sanften Blick.
»Du bist wirklich ein ganz Besonderer, Dylan.«


Liebes Tagebuch ... (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt