Kapitel 3

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Jedes Mal, wenn mein Fuß den Steinboden Hogwarts berührte, spürte ich die kleine Erschütterung in meiner Brust. Daran änderte auch die Zeit nichts, die seit dem Duell heute morgen vergangen war. Die Zauberstabbewegung in Zauberkunst um "Accio" zu erlernen hatte meine Niederlage besonders stark in Erinnerung gerufen. Ich ärgerte mich nicht darüber, dass ich verloren hatte, sondern dass ich aufgegeben hatte. Vielleicht hätte ich die Zähne zusammenbeißen und aufstehen müssen. Stattdessen war ich liegen geblieben, weil ich fast schon ein wenig Angst vor dem Funkeln in Sallows Augen hatte. Ich redete mir ein, dass, wenn ich aufgestanden und weitergekämpft hätte, ich jetzt noch verletzter wäre. Das ließ mich definitiv besser fühlen. Auch das umfangreiche Mittagessen zusammen mit Poppy und den anderen Hufflepuffs hob meine Laune an. Ich genoss den Überschuss an Essen und die Gespräche mit Gleichaltrigen, die etwas Unbeschwertes an sich hatten. Mädchen kicherten, wenn wir über Jungen redeten oder verdrehten theatralisch die Augen, wenn der Unterricht zur Sprache kam. Erst in diesen Momente realisierte ich, was ich in meinem bisherigen Leben verpasst hatte. Besonders deutlich wurde es, als wir uns nach dem Essen in die Mittagssonne im Viadukt Hof legten. Mein Magen war voll und machte mich müde, aber das war in Ordnung, denn wir hatten noch über 30 Minuten Zeit bis wir zu Kräuterkunde laufen mussten. Also lag ich gemeinsam mit den Freundinnen von Poppy im weichen Gras des Hofes und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Das Licht der Sonne war hell und heizte unsere schwarzen Umhänge auf, sodass die spätsommerlichen Temperaturen uns vorkamen, wie Mitte Juli. Dabei war September und eigentlich ein Monat, in dem zahlreiche Gemüsesorten von mir geerntet werden mussten und eine Mittagspause eigentlich noch nie existiert hatte. Vielmehr aß ich hier und dort ein wenig von dem Gemüse, das ich von den Feldern holte. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, denn es fühlte sich gut an, hier zu liegen und den Gesprächen der anderen zu lauschen. Als der Name Sebastian fiel, richtete ich mich auf. Ich würde es so direkt nicht zugeben, aber es interessierte mich, was die anderen über ihn sagten. Dieses Funkeln hatte mir zwar Angst gemacht, aber mich auch auf eine merkwürdige Art und Weise fasziniert. Immer wieder drängte sich auch der Gedanke auf, was er so spät nachts im Büro des Schulleiters zu suchen hatte.
"Ich bin gespannt, wie er sich heute Abend schlägt", sagte Mary-Ann ein Mädchen aus unserem Haus, das eine Jahrgangsstufe über uns war.
"Heute Abend?", fragte ich und blickte fragend in die Runde. Kurz wurde mein Blick verwundert erwidert, bevor sie sich daran erinnerten, dass ich ,wie so oft heute, eine kurze Erklärung brauchte, um ihren Gesprächen folgen zu können. Schließlich wurde ich nach wie vor von den ganzen neuen Eindrücken abgelenkt oder ich kannte mich einfach nicht mit dem Gegenstand der Unterhaltung aus.
"Heute Abend ist die erste Qualifikationsrunde der gekreuzten Stäbe", sagte Poppy und mein fragender Gesichtsausdruck besserte sich erst, als Mary-Ann mir eröffnete, dass die gekreuzten Stäbe der Duellierclub von Hogwarts war, der jedes Jahr ein großes Turnier organisierte. Sebastian würde also den ersten Kampf austragen und ich verspürte den großen Drang, mir das anzusehen.
"Geht ihr hin?", fragte ich und Mary-Ann nickte eifrig. Poppy hingegen schüttelte den Kopf und sagte, dass ihr das alles zu aggressiv sei und sie noch zu den Mondkälbern wolle. Ich nahm mir fest vor, später nachzufragen, was Mondkälber waren, aber in diesem Moment interessierte mich mehr, gegen wen Sebastian heute Abend antreten würde.
"Ich glaube, Astoria Cricket hat nicht den Hauch einer Chance", sagte Mary-Ann und band sich ihre langen rötlichen Haare in einen Pferdeschwanz. So wie Sebastian vorhin gegen mich gekämpft hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass niemand eine Chance gegen ihn hatte.
"Mary-Ann, meinst du, du kannst mich heute Abend mitnehmen?", fragte ich und sah sie abwartend an. Sofort nickte sie und grinste breit.
"Du wolltest in die Bibliothek nach Kräuterkunde, oder? Dann kann ich dich dort abholen", sagte sie. Zwar wusste ich noch nicht, wie ich die verpassten Jahre nachholen sollte, aber ich hatte mir fest vorgenommen, so schnell wie möglich damit anzufangen, um mich im Unterricht besser zu schlagen. Im Fach Verteidigung gegen die dunklen Künste hatte ich mir vorgenommen mich nächstes Mal nicht derart vorführen zu lassen.
Bis zum Ende der Pause hörte ich Mary-Ann gebannt bei ihrer Analyse des letzten Turniers zu. Sebastian hatte dieses knapp im Finale gegen Lucan gewonnen. Vermutlich hatte ich deswegen heute morgen so viel eingesteckt. Als der Hof sich leerte, standen wir auf und gingen zurück zum Schloss. Poppy öffnete die große Doppeltür und die Luft im Inneren war deutlich kühler als draußen.
"Muss ich mich auf weitere Duelle gefasst machen oder was erwartet mich in Kräuterkunde?", wollte ich wissen, während wir unzählige Korridore und Hallen passierten. Laut fingen die anderen Mädchen an zu lachen.
"Kräuterkunde ist ganz anders als Verteidigung gegen die dunklen Künste. Das schlimmste dürfte heute das Geheule der Alraunen werden", grinste Poppy breit. Vielleicht breitete sich etwas Erleichterung in mir aus. Hauptsächlich war ich aber voller Vorfreude, denn mit Pflanzen kannte ich mich aus. Zwar größtenteils mit Gemüse, aber mir könnte es einen Vorteil einräumen, dass ich mich jahrelang um unsere Felder gekümmert hatte.
Bevor wir durch eine weitere große Tür gingen, verabschiedeten sich Mary-Ann und die anderen beiden.  Nur noch zu zweit, durchquerten wir eine weitere der hundert Türen des gigantischen Schlosses und schlagartig wurde es feuchter und wärmer. Die Luft roch nach Erde und frischen Blumen. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ich mich in einem riesigen Gewächshaus mit mehreren Ebenen und Nebenräumen befand. Wir gingen eine gewundene Treppe aus Metall hinab und mich überkam das dringende Bedürfnis, meinen schweren warmen Umhang abzulegen. Die Stufen und das Geländer waren so sehr bewuchert, dass ich Sorge hatte auszurutschen. Ich gab mir größte Mühe, mich an dem Handlauf festzuhalten, um nicht vor der gesamten Klasse, die am Ende der Treppe an Beeten stand, zu stolpern. Allen voran nicht vor Sebastian Sallow, der ganz vorne an einem der Pflanztische lehnte und jeden meiner Schritte zu beobachten schien. Erneut breitete sich Erleichterung in mir aus, als ich den vermosten Steinboden unter den Füßen spürte. Erst nachdem ich sicheren Boden unter den Füßen hatte, sah ich mir das Klassenzimmer genauer an. Der gläserne Raum war bis in den letzten Winkel mit Töpfen und Pflanzen vollgestellt. Am Rand wurden weitere Beete von schwebenden Gießkannen bewässert und die Blüten der Pflanzen strahlten in Farben, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. In der Mitte befand sich ein großer Baum, dessen Äste die Decke des Gewächshauses stützen.
"Du kannst ja immer noch nicht richtig laufen", höhnte Sebastian von der Seite, aber seine Stimme klang nicht so spöttisch, wie ich erwartet hatte. Es hatte fast etwas Freundliches, wie auch immer das bei einer Bemerkung dieser Art möglich war. Ich blieb stehen und musterte ihn. Eigentlich wollte ich irgendetwas schlagfertiges erwidern, aber ich war nicht so gut darin. Stattdessen stand ich vor ihm und versuchte, seinen herausfordernden braunen Augen standzuhalten. Eine Antwort fiel mir immer noch nicht ein, aber dafür drängte sich mir die Frage auf, ob er es in irgendeiner Weise auf mich abgesehen hatte.
Zaghaft zog Poppy mich zu den einzigen freien Tischen in der letzten Reihe. Sie beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir etwas ins Ohr: "Mach dir nichts aus Sebastian, das ist seine Art und du bist die Neue, das ist aufregender als wir anderen. Eigentlich ist er ein Lieber Kerl, aber seit-"
Sie stockte, als eine junge Frau mit orangen Haaren und Blumen übersäten Gewändern die Treppe hinunter lief: "Guten Morgen meine kleinen Gewächse"
"Guten Morgen Professor Garlick", erklang es aus unterschiedlichen Ecken des Klassenzimmers. Ich nahm mir fest vor Poppy später zu fragen, was sie noch sagen wollte, aber zunächst bot sich während der Stunde keine Gelegenheit mehr dazu. Das lag aber hauptsächlich daran, dass das, was Professor Garlick uns über Alraunen und Kaukohl erzählte, zu spannend war und mich alles andere vergessen ließ. Kräuterkunde war in den ersten Minuten zu meinem Lieblingsfach geworden und ich sog jede Information auf. Die Zeit verflog und nachdem wir unseren eigenen Kaukohl angepflanzt hatten, war die Stunde zu Ende.
Poppy zeigte mir den Weg in die Bibliothek, aber kam selbst nicht mit. Ihr Knuddelmuff, ein flauschiges Haustier, wie sie mir erzählte, musste gebürstet werden.
"Wir sehen uns heute Abend im Gemeinschaftsraum", verabschiedete sie sich und schloss mich dafür kurz in ihre Arme, ehe sie eine der vielen Treppen hinauf ging.
"Gerne", rief ich ihr noch hinterher, bevor sie ganz verschwunden war. Vorsichtig drückte ich die Klinke der Bibliotheks Tür runter und der Anblick, der sich mir bot, war unglaublich. Ich fand mich in einem riesigen Raum wieder, der über zwei Etagen ging und mit wandhohen Bücherregalen bestückt war. In der Mitte standen mehrere Schreibtische, an denen Schüler saßen und mit Feder und Tinte auf Pergament schrieben. Auf der zweiten Ebene befanden sich ebenfalls Bücherregale in der gleichen Anordnung. Begeistert beobachtete ich, wie sich schwebende Bücher selbst ein- und aussortierten. Ich brauchte einen Moment, um alles zu erfassen. Zurückhaltend trat ich hinein und ging auf die Schreibtische zu. Dabei wurde der Duft nach Pergament und alten Büchern immer stärker.
"Miss Eltringham?", flüsterte eine Frau in meiner Nähe. Etwas erschrocken fuhr ich herum und blickte in das faltige Gesicht einer Frau. Zaghaft nickte ich.
"Kommen Sie", wies sie mich an und ich folgte ihr leise durch den von Stille dominierten Raum. Sie blieb in einem durch Trennwände abgeschirmten Teil der Bibliothek stehen. In diesem stand ein weiterer, aber deutlich schönerer Schreibtisch, der mit aufwendigen Schnitzmustern versehen war. Um den Tisch herum stapelten sich unzählige Bücher in teilweise deckenhohen Stapeln, die eigentlich jede Sekunde umkippen müssten. Doch sie gerieten nicht einmal ins Schwanken, als die Frau ein Buch von ganz unten herauszog. Es musste Magie im Spiel sein.
"Das gab mir Professor Weasley für sie", mit diesen Worten überreichte sie mir ein großes braunes Lederbuch mit dem Wappen der Schule darauf. Kurz hatte ich Probleme das schwere Buch zu halten, aber dann schlang ich meine beiden Arme fest darum.
"Danke", flüsterte ich so leise wie möglich, um die arbeitenden Schüler nicht zu stören. Ich kam gar nicht dazu zu fragen, wofür dieses Buch war, denn die Frau, die sich als Mrs. Scribner vorstellte, erläuterte, dass darin der Lernstoff der letzten Jahre komprimiert war, damit ich diesen nachholen konnte. Wieder bedankte ich mich und ich spürte, wie in mir ein Feuer ausbrach, das dieses Buch so schnell wie möglich durcharbeiten wollte.
Ich suchte mir einen leeren Schreibtisch und schlug das Buch auf. Es war nach Fächern und Schuljahren sortiert. Bücher hatte ich schon viele gelesen, aber konzentriert an einem Schreibtisch saß ich bisher noch nie. Ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging und die Bibliothek sich mit jeder Seite, die ich verschlang, immer weiter leerte.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und zuckte zusammen. Ich lachte vor Erleichterung, als ich sah, dass es nur Mary-Ann war
"Kommst du mit?", sagte sie leise, sodass ich sie kaum verstand. Ich nickte und packte mein Buch zusammen. Gemeinsam liefen wir heraus und kaum hatte sich die Tür der Bibliothek hinter uns geschlossen, sagte sie: "Heute wird ein spannender Kampf. Lucan, der Organisator, hat mir erzählt, dass Astoria den ganzen Sommer geübt hat"
Wir liefen durch die leeren Korridore zum Uhrenturm in dem jedes Jahr die Duelle stattfanden. Der Uhrenturm hatte eine große Fläche, die einzig durch ein riesiges Pendel durchschnitten wurde. Abgegrenzt wurde der Raum durch Metallgitter hinter die wir uns stellten, um zumindest ein wenig Schutz vor fehlgeleiteten Flüchen zu haben. Ich erkannte Sebastian, der seinen Mantel abgelegt hatte und nur in dem grünen Pullover von letzter Nacht neben einem Gryffindor mit braunen Haaren stand. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren aus dem Hause Slytherin.
"Bereit?", rief der Junge schließlich, über den mir Mary-Ann sagte, dass er Lucan hieß. Sebastian nickte und wieder war da etwas in seinen Augen. Kurz darauf trafen sich unsere Blicke, aber ich schaute direkt wieder weg. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass er dachte, ich würde ihn beobachten. Als ich wieder hinsah, war sein Blick konzentriert auf seine Gegnerin gerichtet. Lucan zählte von drei runter und kaum hatte die letzte Zahl seine Lippen verlassen, rief Sebastian "Depulso". Ein Krachen ertönte, als das Mädchen gegen Holzkisten geschleudert wurde, die sofort zerbrachen. Die Menge jubelte. Ich hielt mich noch zurück, denn mein einziger Gedanke war, wie sehr das weh getan haben musste. Wütend stand sie wieder auf und richtete ihren Stab auf Sebastian. Geschickt rollte er sich ab und wich dem Fluch aus. Noch aus der Drehung heraus wirkte er einen weiteren Fluch, der den Zauberstab des Mädchens aus ihrer Hand schleuderte. Als sie danach griff, verfluchte er sie erneut und dieses Mal blieb sie länger liegen. Wieder ertönten Lobesrufe hinter mir. Sebastian war also wirklich der Favorit. Dass dies berechtigt war, stellte er mit zwei weiteren gut kombinierten Flüchen unter Beweis, sodass er schließlich, ohne einen einzigen Treffer kassiert zu haben, die Qualifikation für sich entschied. Augenblicklich fühlte ich mich nicht mehr so schlecht, gegen ihn verloren zu haben, zumal ich ihn wenigstens getroffen hatte. Zwar mit unfairen Mittel, weil ich gegen die einzige Regel verstoßen hatte, aber so erbarmungslos wie Sebastian duellierte, schien mir das angemessen. Der Kampf war vorüber und bevor wir gingen, beobachtete ich noch, wie Sebastian zu dem Mädchen hinging und ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. Immerhin war er kein komplettes Arschloch.

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