Kapitel 8

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Als ich die große Halle betrat, roch es nach frischem Brot und Kürbissuppe. Die vier langen Tafeln waren immer noch reichlich mit Essen bedeckt, auch, wenn ein Großteil der Schüler schon fertig war. Der Tisch der Hufflepuffs war fast vollständig leer. Nur vorne in der Nähe der Lehrertafel saß eine Gruppe mit Siebtklässlern. Wahrscheinlich hätte ich mich zu ihnen setzen dürfen, denn meine Hausgenossen waren allesamt freundlich und zuvorkommend. Allerdings war ich aber auch froh darüber, mich nicht unterhalten zu müssen. Also wählte ich einen Platz, der weiter weg von der kleinen Gruppe war. Eine Welle der Entlastung durchfuhr erst meine Beine und dann den Rest meines Körpers, als ich mich auf die Holzbank gesetzt hatte. Es kostete mich einiges an Kraft, mir eine Scheibe Brot zu greifen und Käse darauf zu legen. Mehr Kraft kostete es mich jedoch, dieses anschließend auch noch zu essen. Trotzdem hoffte ich inständig es würde mir genug Energie verleihen den Weg zum Gemeinschaftsraum zu schaffen. Bevor ich nach einer der Birnen griff, warf ich einen Blick über meine Schulter. Sofort fanden meine Augen das, was sie suchten. Sebastian. Er saß am Slytherintisch und unterhielt sich mit seinem Sitznachbarn. Schnell wandte ich mich wieder ab und biss in das Obst. Nur, um dann wenige Sekunden später doch wieder hinzuschauen. Fast fühlte es sich so an, als hätte ich keine Wahl. Sein verschmitztes Lächeln, das die Geschichte, die er erzählte, begleitete, ließ mich all die Anstrengung vergessen. Plötzlich sah er in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich. Ich blendete den Tisch der Gryffindors aus und drohte trotz der Distanz in seinen braunen Augen zu versinken. Auch wenn ich gewollt hätte, wäre ich vermutlich nicht in der Lage gewesen, mich abzuwenden.
Sebastian geriet ins Wanken und wandte seinen Blick ab. Irritiert sah ich zu seinem Sitznachbarn, der unerfreut erst ihn und dann mich anschaute. Dann schüttelte er demonstrativ den Kopf und steckte seinen Zauberstab mit dem er Sebastian einen Schubser gegeben haben musste zurück in die Manteltasche. Peinlich berührt richtete ich meine Augen zurück auf meinen Teller. Warum hatte ich ihn so angestarrt? Hätte ich mich nicht, wie alle anderen, auf mein Essen konzentrieren können? Sowieso sollte ich mich doch viel eher fragen, was Teil meines Erbes oder was ein Squib war. Doch stattdessen drehten sich meine Gedanken nur um die braunen Augen von Sebastian und dem Gefühl auf meiner Haut, das er hinterlassen hatte, als er mich berührte. Ich kniff meine Augen zusammen und befahl meinem Inneren, dass es sich zusammenreißen sollte. Es gab deutlich wichtigere Fragen zu klären.
Jeder Schritt brannte, als ich nach dem Essen aufstand und die große Halle verließ. Aber immerhin hatte ich es geschafft, Sebastian nicht wieder anzustarren. Wahrscheinlich dachte er trotzdem, dass ich nicht alle beisammen habe. Die Schmerzen besserten sich etwas, nachdem ich anfing zu humpeln. Leider hatte das zur Folge, dass der Weg in die Waschräume und dann in meinen Gemeinschaftsraum noch länger dauerte. Dafür war der, immer nach Kaminfeuer riechende, Raum fast leer, als ich zwar in einem gänzlich zerstörten Kleid, aber ohne Dreck am Körper eintrat. Mein Äußeres warf zwar dadurch nicht mehr allzu viele Fragen auf, aber ich war der festen Überzeugung, dass ich nicht mehr in der Lage war, auch nur eine zu beantworten. Ich hoffte, dass die Mädchen aus meinem Schlafsaal schon schliefen. Allen voran Portia. Schließlich musste ich ihr noch beichten, dass ihr Kleid ruiniert worden war. Tief atmete ich ein, während ich den Gemeinschaftsraum durchquerte.
Die runde Holztür meines Schlafsaals öffnete sich und ich sah, dass nur Poppy und Portia anwesend waren. Poppy saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und kraulte den Kopf eines runden, flauschigen Wesens. Dabei unterhielt sie sich mit Portia, die am anderen Ende des Bettes saß. Das Gespräch endete schlagartig und beide schauten mich an. Die Verwunderung in ihren Gesichtern wich dem Entsetzen, nachdem sie mich genau gemustert hatten.
"Es tut mir leid Portia", sagte ich bedrückt, denn ich war mir ziemlich sicher, dass der Blick dem ruinierten blauen Kleid galt. Portia sagte nichts, sondern sprang auf und eilte auf mich zu. Ich erwartete, Flüche aus ihrem Mund zu hören oder Verunglimpfungen jeder Art, die ich absolut verdient hatte. Doch stattdessen hielt sie ungebremst auf mich zu. Als ich das letzte Mal etwas kaputtes zurückgebracht hatte, wurde ich beschimpft, aber geschlagen wurde ich noch nie. Das musste sie vorhaben, so ungezügelt, wie sie die letzten Meter überbrückte. In der Erwartung ihrer flachen Hand auf meiner Wange kniff ich meine Augen zusammen. Doch es waren ihre Arme, die sich um mich legten und mich fest an sie drückten. Verwundert öffnete ich die Augen und sah Poppy, die uns beide gleichzeitig in den Arm nahm.
"Also sind die Gerüchte wahr", sagte sie völlig aufgebracht, als sie sich wieder löste. Dann sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus ihr heraus: "Wir haben gehört, dass Trolle Hogsmead verwüstet haben und dann warst du nicht zu finden. Keiner hatte dich gesehen. Wir hatten solche Sorge um dich!"
"Schön zu sehen, dass es dir gut geht", ergänzte Portia und legte einen Arm beruhigend auf Poppys Schulter. Mein Blick ging zwischen den beiden hin und her. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also wiederholte ich meine Entschuldigung und schlurfte auf mein Bett zu. Alles in mir schrie nach Ruhe und Schlaf. Ein Schmerz durchzog mich, als ich die Reste des Kleides über meinen Kopf zog und mich auf mein Bett fallen ließ. Besorgt wanderte Poppys Blick von mir zu Portia: "Sie ist völlig neben der Spur"
"Du hast Recht, wir sollten sie zum Krankenflügel bringen", pflichtete Portia bei und ich schüttelte den Kopf.
"Ich bin nur erschöpft", murmelte ich und drehte mich schon auf die Seite bevor ich ergänzte, "Außerdem hat Sebastian mich schon hingebracht"
"SEBASTIAN?!", platzte es sofort aus beiden heraus und ich spürte ihre neugierigen Blicke auf mir. Alle beide traten an mein Bett heran und ich wusste, dass sie mich erst schlafen ließen, nachdem ich ihnen erzählt hatte, was passiert war. Das war ich ihnen auch irgendwo schuldig, schließlich war ihnen das kaputte Kleid völlig egal gewesen und sie hatten sich nur um mich gesorgt. Bevor ich anfangen konnte zu erzählen, ging die Tür auf und zwei Hufflepuffs kamen rein. Mary-Ann stieß erleichtert die Luft aus, als sie mich sah. Ruby hingegen lief ohne jegliche Regung in ihrem Gesicht an meinem Bett vorbei zu ihrem. Ruby und ich hatten generell noch nicht viel miteinander gesprochen. Ein paar Unterrichtsstunden hatten wir gemeinsam, aber mehr wusste ich nicht über sie.
"Ihr kommt gerade richtig!", rief Poppy aufgeregt und setzte sich auf meine Bettkante. Resigniert hob Ruby den Kopf und sah sie an: "Warum?"
"Elisa wollte uns gerade erzählen, wie der Troll ihr Date mit Sebastian gestört hat", lachte Portia und warf mir dabei einen auffordernden Blick zu. Ich setzte mich auf und zog die Beine an. Mir gefiel es nicht, dass sie Witze darüber machte. Vor allem, weil es kein Date war. Nachher sprach sich das herum und allein der Gedanke daran, dass Sebastian über Dritte erfuhr, dass es für mich ein Date gewesen sein könnte, löste ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen aus. Also protestierte ich: "Das war kein Date!"
"Wie auch immer. Sebastian hat gerade schon in der großen Halle rumgeprahlt, wie er der Neuen das Leben gerettet hat", lehnte Ruby sich zurück und griff nach einem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag. Ohne uns auch noch einmal anzuschauen, fing sie an zu lesen. Liebevoll kopfschüttelnd wandte sich Portia wieder zu mir und sah mich abwartend an. Also erzählte ich von Mr. Vanders, dem Butterbier und dem Troll.
"Du hattest so ein Glück, dass du mit Sebastian unterwegs warst!", sagte Poppy und fügte dann hinzu, "Schließlich ist er der beste Duellant in Hogwarts"
"Oder der größte Angeber", lachte Mary-Ann und warf einen Blick zu Ruby, die nicht mehr aufschaute. Der Rest der Mädchen lachte ebenfalls. Meine Kraft reichte nur noch für ein Grinsen, bevor meine Augen zufielen und ich einschlief.

Am nächsten Morgen hörte ich die Vögel zwitschern und das Geflüstere von Poppy. Ich entschied mich noch einen Moment die Augen zu schließen. Zum ersten Mal seit dem Kampf fühlte sich mein Inneres klarer an. Fast, als hätte der Schlaf alle Bilder und Emotionen wieder geordnet. Meine Gedanken waren nicht mehr bei Sebastian oder dem Troll, sondern bei Mr. Vanders und dem, was er mir gegeben hatte. In der Schachtel war mehr als nur Geld drin, das stand außer Frage, aber war ich bereit das andere zu sehen?
Es würde das letzte Mal sein, dass ich etwas von meiner Oma erhielt. Fast wie eine letzte Möglichkeit mit ihr zu sprechen. Ich sollte die Schachtel mitnehmen und nach dem Frühstück einen Ort suchen, wo ich sie ungestört öffnen konnte. Für den Moment öffnete ich also nur meine Augen und sah, wie Poppy und Mary-Ann die Köpfe zusammengesteckt hatten und über irgendetwas angeregt redeten. Die anderen Betten waren bereits verlassen.
"Haben wir dich geweckt?", fragte Mary-Ann. Verschlafen schüttelte ich den Kopf. Als ich aufstand, sah ich, dass auf der Kommode vor meinem Bett ein Kleidungsstück lag. Verwundert ging ich darauf zu und betrachtete es genauer. Es war ein rotes, schlichtes Kleid mit Trompetenärmeln und der Stoff schien durch meine Hände zu fließen. Fragend blickte ich die anderen Mädchen an.
"Portia hat das blaue Kleid zwar wieder zusammen gezaubert, aber sie hat dir ein anderes rausgelegt, falls du nicht zweimal das gleiche tragen willst", erklärte Mary-Ann mit einer solchen Selbstverständlichkeit, die dem warmen Gefühl in meinem Herzen nicht ansatzweise gerecht wurde. Ich machte ihr Kleid kaputt und sie lieh mir ein weiteres.
"Außerdem sollen wir dir ausrichten, dass du das Rote auch behalten kannst, weil sie die Ärmel stören", fügte Poppy noch hinzu und erhob sich von ihrem Bett, "Willst du mit uns frühstücken gehen?"
Ich nickte und zog mir das Kleid über. Zusammen verließen wir unseren Schlafsaal. Im Gemeinschaftsraum richteten sich alle Blicke auf uns. Anscheinend hatte sich das mit dem Troll schneller herumgesprochen, als ich es für möglich gehalten hatte. Allem Anschein nach war es mehr als außergewöhnlich, dass Trolle durch Hogsmead liefen. Das drängte mir wieder die Frage auf, was sie dort zu suchen hatten. Ich nahm mir fest vor dem auf den Grund zu gehen. Für den Moment gab es aber andere Dinge, die mich brennend interessierten. Also nutze ich die erste Stille im Gespräch, die auf dem Weg in die große Halle entstanden war und fragte direkt: "Was ist ein Squib?"
Verwundert schaute Poppy mich an, während sie aus dem Fass - dem Ein- und Ausgang zu unserem Gemeinschaftsraum - stieg: "Wie kommst du darauf?"
"Mr. Vanders hat das Wort benutzt und ich kam nicht dazu, ihn selbst zu fragen", sagte ich und ließ absichtlich das Detail außen vor, dass er Sorge hatte, ich wäre einer. In seiner Stimme war ein merkwürdiger Nachhall gewesen und solange ich nicht wusste, was es bedeutete, wollte ich nicht, dass die anderen wussten, dass er Sorge hatte, ich bin so jemand.
"Ein Squib ist ein Mensch, der eigentlich magische Fähigkeiten haben sollte, aber keine bekommen hat", erläuterte Mary-Ann und stieg dabei eine Treppe hinauf. Ihre Erklärung warf nur noch mehr Fragen bei mir auf: "Welche Menschen sollten denn magische Fähigkeiten bekommen?"
"Ein Kind von zwei Magiern zum Beispiel", sagte Poppy geduldig und meine Gedanken überschlugen sich. Das Kind von zwei Magiern. Meine Eltern waren etwas, über das meine Großmutter nie mit mir gesprochen hatte, also hatte ich irgendwann aufgehört, über sie nachzudenken. Warum sollte Mr. Vanders Sorgen haben, dass ich ein Squib wäre? Kannte er meine Eltern und wusste er, dass sie auch Zauberer waren? Ich musste noch einmal mit ihm sprechen! Es fühlte sich so an, als hätte die Erklärung, was Squib ist, eine große verdrängte Leere ans Tageslicht befördert, die zum ersten Mal seit Jahren die Chance bekam, gefüllt zu werden. Ich erinnerte mich nicht an eine Zeit, in der meine Eltern bei mir gewesen waren. Es gab immer nur meine Großmutter und mich.
"Alles in Ordnung?", besorgt sah mich Poppy an und ich sammelte mich wieder. Jetzt war nicht der richtige Moment, um der Frage weiter auf den Grund zu gehen.
"Ja klar", sagte ich schnell und folgte den beiden durch die Tür in die große Halle. Dieses Mal war diese deutlich voller als am Abend zuvor. Mein Blick glitt einmal über den Slytherintisch, doch als ich Sebastian nicht entdeckte, wandte ich ihn wieder ab. Das gesamte Frühstück über sprach ich nur das nötigste und so viel wie mein beschäftigter Kopf zuließ. Ich war erleichtert, als wir im Anschluss aufstanden und gemeinsam die Halle verließen.
"Möchtest du mit in den Stall?", fragte Poppy mich und so lieb, wie sie mich anlächelte, sagte ich fast ja, aber ich spürte die Präsenz der Schachtel in meiner Tasche und lehnte dankend ab und sagte nur, dass ich weiter in der Bibliothek studieren wollte.
"Du bist so fleißig", sagte Mary-Ann anerkennend und kurz bevor sie eine andere Abzweigung nehmen wollte, blieb sie noch einmal stehen: "Heute Abend kommst du aber wieder mit, oder?"
"Wie könnte ich mir den zweiten Kampf von Sebastian entgehen lassen", gab ich zurück. Auch wenn er mich gestern Abend nicht direkt gefragt hätte, wäre ich trotzdem hingegangen. Duelle waren spannend, wenn man nicht gerade selbst verwickelt war. Auch Poppy verabschiedete sich und ich war allein. Jetzt müsste ich nur noch einen Ort finden, an dem ich meine Ruhe hatte, der aber nicht die Kabine auf der Mädchentoilette war. Etwas kopflos und mit ratternden Gedanken streifte ich durch die Schule, um so einen Platz zu finden. Ich nutzte, die sich von selbst bewegenden Treppen, passierte zahllose Korridore und Türen. Letztendlich fand ich mich in einem verlassenen Gang wieder und ich hielt es kaum noch aus. Am Ende des Ganges bildete sich etwas Schwarzes an einer Wand. Vorsichtig trat ich näher und sah, wie aus dem Schwarzen eine große Tür wurde. Sie war kunstvoll verziert und wirkte überraschenderweise vertrauenserweckend. Der Raum dahinter war dunkel und roch nach altem Holz. In der Dunkelheit am Rand standen Deckenhohe Stapel von Stühlen, Schränken und allem denkbaren Plunder. Die Mitte des Raumes war hell erleuchtet und genau im Zentrum des Lichtkegels stand ein roter Ohrensessel auf einem kreisrunden Teppich mit einem Kerzenständer daneben. Es war perfekt. Dieser Raum schien genau das zu haben, was ich mir wünschte. Langsam ging ich auf den Sessel zu und bevor ich mich hinsetzte, zog ich die Schachtel aus meiner Tasche. Ich atmete tief ein und hob den Deckel an.
Das erste, was ich sah, war Gold. Mehrere Goldstücke lagen in der Schachtel. War das, das Geräusch, was ich gehört hatte? War das alles? Ich sah mir das Gold genauer an und legte ein silbernes Band frei, das darunter lag. Zaghaft zog ich daran und am anderen Ende hing ein großes, schweres Medaillon. Ich drehte den Anhänger mit einem verästelten Baum auf der Vorderseite in meinen Fingern. Auf der Hinterseite war ein eingraviertes Symbol, das ich noch nie gesehen hatte. Meine Großmutter hatte es nie getragen, da war ich mir ziemlich sicher. Vielleicht hatte sie es versteckt. Wenn es wirklich echtes Silber war, dann musste es bei dem Gewicht eine Menge Wert sein. Ansonsten war die Schachtel leer. Kein Brief oder Zettel, der mir mehr über die Kette verriet. Ich wusste nur, dass es jetzt meine Kette war und, dass die Bedeutung des Symbols zu einer der vielen Dingen gehörte, die ich herausfinden wollte.

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