Kapitel 13

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Unter der schweren Daunendecke meines Bettes war es warm. So warm, dass mir selbst im Liegen der Schweiß die Stirn herunter rann. Vor dem Zubettgehen hatte ich es für eine wahnsinnig kluge Idee gehalten mein langes Nachthemd über den Wollpullover und die Hose zu ziehen um mich in der Nacht besser hinaus schleichen zu können. Früher hatte mich dieser Pullover auf dem Heuboden unserer Farm nachts und in den kälteren Monaten besser warm gehalten als jedes andere Kleidungsstück. Im Moment verfluchte ich ihn wegen dieser Eigenschaft, denn in Hogwarts war es nie so kalt wie in unserem Dorf. Zwar wurde es auf den Korridoren, je weiter wir auf den Winter zugingen, allmählich kälter, aber die Gemeinschaftsräume und Schlafsäle waren immer so warm, dass wir in unserer Uniform ohne den Mantel nicht frierten.
Ich zählte die Sekunden, bis ich endlich mein Bett und den Gemeinschaftsraum verlassen konnte. Vorerst musste der leichte Luftzug reichen, den ich verspürte, als ich beide Beine aus dem Bett hinaus hingen ließ. Mein Blick wanderte durch den von Mondlicht durchfluteten Raum. Im Bett neben mir lag Portia auf dem Rücken, die Arme von sich gestreckt und schnarchend. Poppy war gänzlich unter ihrer Decke verschwunden, sowie Mary-Ann und Ruby auch. Vermutlich schliefen sie alle. Ich hätte es auch tun sollen, aber bei den Temperaturen war nicht daran zu denken. Es erinnerte mich an die Sommernächte, in denen die Luft auch ohne die Sonne nicht abkühlte. Eine Nacht, wie die, in der sie uns angriffen und ich nach Hogwarts gebracht wurde. So viel war seit dem passiert. So viel, dass die Erinnerungen und der Schmerz allmählich verblassten. Ich hatte ein neues Zuhause gefunden, aber trotzdem machte es mich traurig, wenn ich an mein Altes dachte. An den Heuboden und den Geruch, nachdem die Sonne einen ganzen Tag auf ihn geschien hatte. Ich seufzte, aber schlug mir unmittelbar danach die Hand auf den Mund. Wenn ich niemanden wecken sollte, musste ich leise sein. Für einen Moment schwelgte ich in den Erinnerungen an mein Zuhause und meine Großmutter. Dann schlug ich die Decke zurück und stand auf. Zum Glück war die Luft genauso erfrischend, wie ich es mir ausgemalt hatte. Vorsichtig zog ich mir das Nachthemd über den Kopf, zog meine Schuhe an und verließ dann meinen Schlafsaal. Kurz darauf fand ich mich im gespenstisch leeren Gemeinschaftsraum wieder, in dem nicht einmal mehr die Feuer in den Kaminen brannten. Sogar die sonst so lebhaften Portraits schliefen. Meinen Gemeinschaftsraum so zu sehen bereitete mir Unbehagen, denn es hielt mir vor Augen, wie verloren ich wäre, wenn es Hogwarts und meine Hausgenossen nicht gäbe. Hastig durchquerte ich den Raum, stark darauf bedacht, nicht gegen einen der kleinen runden Tische zu laufen oder über die Enden der Teppiche zu stolpern. Es war Erleichterung, die sich in mir ausbreitete, als ich durch das Fass hinaus kletterte. Auf dem Korridor vor mir war es genau so dunkel, wenn nicht sogar ein wenig dunkler, da es keine Fenster gab, durch die das Mondlicht fallen könnte. Trotzdem unterließ ich es die Spitze meines gezückten Zauberstabs mit "Lumos" erleuchten zu lassen. Ich wollte nicht, dass ich erwischt werde und schon gar nicht, bevor ich die verbotene Abteilung überhaupt betreten hatte. Deswegen passierte ich leichtfüßig und mit großen Schritten die unzähligen Korridore, bis die Halle mit dem Meerjungfrauen Brunnen nur noch eine Treppe entfernt war.
Mit jedem weiteren Schritt stieg meine Aufregung und mit ihr mein Herzklopfen. Doch das lag nicht daran, dass ich in diesem Moment schon unzählige Schulregeln brach und noch weitere brechen würde, sondern weil er dort auf mich wartete. Ich atmete tief durch und bog um die letzte Ecke und dann stand er dort. Lässig lehnte Sebastian Sallow an der Balustrade am Fuße der Treppe. Sein Blick wanderte unbeeindruckt durch die Halle und dabei - ich hielt einen Moment inne, weil ich nicht glauben konnte, was ich da sah; besser gesagt hörte. Der tollkühne Slytherin war auf dem Weg in die verbotene Abteilung einzubrechen und vertrieb sich die Wartezeit mit Pfeifen. Je näher ich kam, umso deutlicher wurde die Melodie und ich wusste nicht, ob ich beeindruckt von dieser Gelassenheit oder verängstigt sein sollte. Er stoppte, als er mich sah und lächelte. Trotzdem bewegte er sich kein Stück.
"Bist du noch bei Sinnen?", flüsterte ich leise, als ich vor ihm zum Stehen kam. In seinen Augen blitzte etwas auf und dann wandte er sich um und blickte vom Treppenabsatz hinunter zu dem Brunnen. Dort standen mehrere Vertrauensschüler, die sich angeregt unterhielten. Dann winkte er ab: "Die sind viel zu beschäftigt mit sich selbst"
Er hatte Recht. Selbst als er in normaler Zimmerlautstärke sprach, wurden sie nicht stutzig und das, obwohl uns höchstens fünf Höhenmeter trennten.
"Trotzdem sollten wir den Desillusionierungszauber anwenden. Auch Vertrauensschüler haben mal einen lichten Moment", sagte er dann und sah mich wieder an. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und nickte dann verstehend. Über den Zauber hatte ich in meinem Buch gelesen und brannte darauf, ihn auszuprobieren.
"Na dann los. Folge mir unauffällig", befahl er, schwang seinen Zauberstab und war augenblicklich verschwunden. Ich tat es ihm gleich und ging dann die Treppe hinunter. Meine Nervosität stieg mit jeder Treppenstufe, die wir hinabgingen. Die Stimmen der anderen Schüler wurden immer lauter, doch auch, als wir nur noch wenige Meter neben ihnen waren, bemerkten sie uns nicht. Dann war der Eingang der Bibliothek nicht mehr weit. Wie von Geisterhand öffnete sich die Tür vor mir und ich wusste, dass Sebastian drin war. Vorsichtig schloss ich diese wieder hinter mir und stand alleine in der Bibliothek. Ab hier kannte ich den Weg nicht mehr und ihn konnte ich auch nirgends entdecken. Leichte Panik stieg in mir auf und ich sah mich um. Suchte die Papierstapel nach Bewegung ab oder ob einer der Globi sich drehte, doch nichts.
"Sebastian?", fragte ich unsicher in die Dunkelheit hinein. Keine Reaktion. Mit jeder weiteren Sekunde, die ich allem Anschein nach alleine in der Bibliothek stand, wuchs meine Sorge. Sorge, dass er mich alleine gelassen hatte und Sorge erwischt zu werden. Das Letzte, was ich wollte, war Hogwarts verlassen zu müssen, weil man mich erwischte. Sebastian wurde zwar schon öfter erwischt, aber im Gegensatz zu mir war er schon fünf Jahre auf dieser Schule und hing nicht genauso viele Jahre mit dem Lernstoff hinterher.
"Sebastian, das ist nicht witzig", meine Stimme zitterte mittlerweile. Dann hörte ich es. Das vertraute, warme und immer leicht spöttische Lachen des Slytherins. Er hob die Desillusionierung auf und stand wenige Meter von mir entfernt. Auch ich machte mich wieder sichtbar und stemmte empört meine Arme in die Seite.
"Ich würde dich niemals zurück lassen, Elisa", sagte er und präsentierte mir im Anschluss einen Schlüssel, "Ich musste nur schnell den hier holen"
Dann griff er meine Hand und zog mich hinter sich her. Krampfhaft versuchte ich das Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren, das sich ausbreitete nachdem er meine Hand genommen hatte. Es war kein guter Moment, sich von solchen Dingen ablenken zu lassen. Ich musste das Buch suchen, von dem er gesprochen hatte und herausfinden was es mit der Rune auf sich hatte. Wir blieben vor einer Tür stehen, die er geschickt mit einer Hand aufschloss, denn in der anderen hielt er immer noch meine. Ohne uns umzusehen, passierten wir die Tür und er lief zielstrebig durch die Regale. Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie gut er sich auskannte und wie oft er schon heimlich hier drin gewesen sein musste.
"Irgendwo hier war es", murmelte er vor einem Regal mit Büchern über Runen. Seine freie Hand glitt über die Buchrücken und ich stand neben ihm und beobachtete ihn dabei. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Schrei und wir fuhren herum. Ich riss meine Hand los, um sie mir vor den Mund zu halten, denn ansonsten hätte ich laut geschrien. Direkt vor uns schwebte ein Geist. Er trug auffällig bunte Gewänder und einen fast schon lächerlich aussehenden Zylinder. Kopfschüttelnd schwebte er auf Sebastian zu und stoppte nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht.
"So, so der junge Sebastian Sallow mal wieder nachts in der verbotenen Abteilung", spottete der Geist und Sebastian rollte nur mit den Augen.
"Verschwinde Peeves", zischte er dann und baute sich etwas auf.
"Werde ich auch. Mal überlegen zu wem zuerst", der Geist hielt inne, legte die Hand an sein Kinn und überlegte überzogen, "zu Mrs. Scribner oder direkt zu Professor Black"
Dann schwebte er ohne weiter Zeit zu verlieren davon. Unsicher blickte ich Sebastian an, doch der fasste mich an den Schultern, sah mir in die Augen und sagte: "Ich kümmere mich darum! Such du das Buch und die Rune. Ich werde dir genug Zeit verschaffen"
Mir blieb keine Sekunde, um ihm zu antworten, denn er hatte mich bereits losgelassen und war die Treppe hinauf gerannt. Ich merkte mir das Regal, in dem ich suchen sollte, und folgte ihm. Am Fuße der Treppe blieb ich stehen, sodass ich gerade noch sehen konnte, was außerhalb der verbotenen Abteilung vor sich ging. Kaum hatte Sebastian die Tür geschlossen, kam Mrs. Scribner im Nachthemd und mit wutverzerrtem Blick in die Bibliothek gelaufen.
"Mr. Sallow ich bin über alle Maßen enttäuscht von Ihnen!", kopfschüttelnd stand sie vor ihm und Sebastian kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Mir stoppte das Herz. Ich wollte nicht, dass er wieder in Schwierigkeiten geriet.
"Wo ist deine kleine Freundin?", keifte Peeves und seine Stimme ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Wie erstarrt stand ich versteckt hinter dem Treppengeländer. Vielleicht sollte ich mich zeigen und ihnen sagen, dass alles meine Idee war und ich Sebastian überredet hatte.
"Da war niemand mehr. Ich war allein", log er, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Schuldgefühle übermannten mich und es fühlte sich so an, als würden sie mich langsam von innen auflösen. Wir waren wegen mir hier gewesen und er nahm die gesamte Verantwortung auf sich.
"Das stimmt nicht! Das stimmt nicht", kreischte Peeves und flog bedrohlich über Sebastian hinweg. Mrs. Scribner sah den Geist böse an: "Verschwinde Peeves, sonst hole ich den blutigen Baron!" Sofort hielt er inne und verschwand hinter der nächsten Wand.
"Nun kommen Sie Mr. Sallow. Ich muss Sie leider ins Büro vom Schulleiter bringen!", sagte sie enttäuscht und Sebastian folgte ihr hinaus.
Als ich die Tür der Bibliothek ins Schloss fallen hörte, erwachte ich aus meiner Starre und ging zurück zu dem Regal. Das schlechte Gewissen machte es mir fast unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen, so überwältigt war ich von diesem Gefühl. Plötzlich bemerkte ich ein Schimmern. Es war so blau wie der Himmel und erinnerte mich an den Schleier, den ich am See gesehen hatte. Unsicher fasste ich mir an die Augen um zu überprüfen, ob ich wieder unbemerkt geweint hatte, doch da war nichts. Es konnte nicht an den Tränen liegen und trotzdem war dieses Schimmern da. Vorsichtig ging ich auf das Buch zu. Beim genaueren Hinsehen erkannte ich, dass es mehr als ein Dunst war. Es sah aus wie bläulich schlängelnde Rauchfaden. Es war kein Zufall, dass es dem, was ich auf dem Amulett gesehen hatte, so ähnlich sah. Instinktiv griff ich nach dem Buch, von dem es ausging. Als ich es öffnete, wurde ich zunächst von dem gleißenden blauen Licht geblendet. Ich kniff meine Augen zusammen und als ich sie wieder öffnete, sah ich auf der aufgeschlagenen Seite die Rune, die auch auf der Kette war. Daneben stand in schnörkeliger Handschrift "Hüter/Alte Magie Rune"
Ich wusste nicht, was das bedeutete oder warum das blaue Licht erst jetzt zu sehen war, aber ich wusste, dass ich schnell in meinen Schlafsaal zurückkehren sollte, bevor Peeves Mrs. Scribner dazu brachte noch einmal nach zu sehen.

Im Schatten des Unausgesprochenen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt