Kapitel 23

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Sebastian Sallow ging mit kampfbereit gezücktem Zauberstab voran durch die Dunkelheit des verbotenen Waldes. Ich lief dicht hinter ihm und versuchte, das Bild von Mr. Vanders aus meinem Kopf zu bekommen. Doch jedes Mal erschien sein geschundenes Gesicht vor meinem inneren Auge und der abgeschlagene Klang seiner Stimme hallte in meinen Ohren wieder. Schnell wandelte sich der Schmerz, den ich verspürte, in Wut. Wut über die Rücksichtslosigkeit meines Onkels und seiner Gefolgsleute. Wie konnte so ein Mensch teil meiner Familie sein? Ich bin dankbar dafür mit dem Namen Eltringham aufgewachsen zu sein, denn wegen Victor wollte ich nicht mit Rookwood in Verbindung gebracht werden. Hoffentlich waren nicht alle Menschen dieser Familie so wie er. Was meinen Vater anging, werde ich es wohl nie herausfinden können, denn dieser verfluchte Victor hatte ihn auf dem Gewissen. Die Emotionen in meinem Inneren überrannten mich und ich wusste nicht mehr, wie ich ihnen standhalten sollte. Kraftvoll trat ich gegen eine Ansammlung von Hornklumpen am Wegesrand. Mit einem ploppenden Geräusch flogen die hornigen Pilzköpfe in alle Richtungen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich besser.
"Willst du nicht gleich noch ein Signalfeuer in die Luft schießen?", bemerkte Sebastian den Blick dabei starr auf den Weg vor uns gerichtet. Er hielt Ausschau nach möglichen Gefahren, aber ließ trotzdem nicht die Gelegenheit aus, einen sarkastischen Kommentar zu machen. Unter anderen Umständen hätte ich gelacht, aber im Moment war ich nicht dazu in der Lage.
"Es macht mich nur so wütend", setze ich an und bevor ich weiter ausführen konnte, was genau mich so aufwühlte, drehte er sich um und zog mich in seine Arme.
"Ich weiß was du meinst", flüsterte er dann in meine Haare. Er brauchte nichts weiter zu sagen, denn ich wusste, dass er mich verstand und genau wusste, was in meinem Kopf vor sich ging. Mit jeder Sekunde in seinen Armen wurden meine Gedanken ruhiger und der Schmerz weniger. Einen Moment hielt er noch inne und sagte im Anschluss: "Wir sollten aber trotzdem schnell zurück zum Schloss. Der verbotene Wald ist kein sicherer Ort" Verstehend nickte ich und wir gingen weiter den von Mondlicht beleuchteten Weg entlang. Der Nebel hatte sich zwar etwas gelichtet, aber mehr als die Bäume unmittelbar am Wegesrand konnte man nicht erkennen. Irgendwann schimmerte Licht durch die Bäume am Ende des Waldes und wir wussten, dass Hogwarts nicht mehr weit entfernt war. Ich war froh darüber aus dem Wald hinaus zu sein, aber der Tod von Mr. Vanders ließ mich immer noch nicht ganz los. Ich hatte ihn nur einmal gesehen, aber diese Art zu sterben verdiente niemand.
"Was hast du eigentlich im verbotenen Wald gemacht?", durchbrach ich die angespannte Stille, nachdem wir die Brücke überquert hatten. Nicht nur, dass ich das Schweigen nicht länger ertragen hätte, ich hoffte auch, dass das Gespräch mich von meinen Gedanken ablenken würde. Sebastian war seit wir den Wald verlassen hatten deutlich entspannter und lachte. Es war schön, wieder sein Lachen zu hören. Augenverdrehend und immer noch mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen erzählte Sebastian: "Ich hab Garreth versprochen mit ihm Fwuuper Federn zu holen und am einfachsten bekommt man die von den Wilderern, wenn sie schlafen"
Auf einmal legte sich wieder etwas Dunkles in seinen Ausdruck so als würde ihm die Erinnerung daran auch nicht einfach fallen und er fuhr fort: "Wir waren auf dem Rückweg, als ich deine Schreie gehört habe"
Seine Augen wanderten mich einmal von oben bis unten ab, fast so, als würde er noch einmal sicher gehen, dass mir nichts passiert war und ich ihm wohlbehalten gegenüber stand.
"Was ist mit Garreth?", fragte ich dann das Offensichtliche, während wir den Weg vorbei an den nächtlichen Feldern und Wiesen entlang liefen.
"Er hat schon Panik beim ersten Schrei bekommen. Ich hab ihn dann zurück nach Hogwarts geschickt, weil er nur im Weg rumgestanden hätte. Gryffindors sind in solchen Situationen zu nichts zu gebrauchen. Immer mit dem Kopf durch die Wand", erläuterte er und in seiner Stimme lag wieder diese unendliche Gelassenheit.
Als wir an der Schlossmauer waren, hielt er mich sanft zurück. Fast wäre ich ohne Verhüllungszauber durch das Tor spaziert und hätte uns beide verraten. Sebastian verschwand und ich tat es ihm gleich. Ohne dass wir uns absprachen, trafen wir uns in der Krypta wieder. Es war klar, dass wir keine Zeit verlieren würden und überprüfen mussten, ob eine weitere Erinnerung in der Uhr versteckt war. Sebastian war vor mir in dem Gewölbe gewesen und stand mit verschränkten Armen an das Denkarium gelehnt. Ich überbrückte schnell die letzten Meter zu ihm. Dabei zog ich die Taschenuhr aus meinem Umhang hervor. Zum ersten Mal hatte ich die Zeit, sie richtig anzusehen. Sie war kunstvoll gefertigt und trug auf der Rückseite die Initialen meines Vaters graviert. Sebastians Finger griffen ebenfalls nach der Uhr, aber ich wollte diese noch nicht loslassen. Der unverwechselbare Geruch nach Zedernholz und altem Pergament stieg mir in die Nase und für einen Moment vergaß ich die Uhr in unseren Händen. Stattdessen blickte ich auf und sah direkt in seine braunen Augen. Dann auf seine Lippen und ich fragte mich zum ersten Mal, wie es sich wohl anfühlen würde, diese zu küssen.
Ich biss die Zähne zusammen und brachte etwas Abstand zwischen uns. Alte Magie. Darauf sollte ich mich konzentrieren und nicht auf mein Herz, das mir bis zum Hals schlug.
"Ich denke du musst die Uhr mit alter Magie öffnen, so wie beim letzten Mal", brachte Sebastian hervor und kratze sich dabei verlegen am Hinterkopf. Irgendwas war anders an ihm als noch vor wenigen Minuten. So als wäre all die Selbstsicherheit verschwunden. Doch dann sammelte er sich wieder und sah mich abwartend an. Daraufhin ließ ich die Uhr am Band von der einen Hand hinunter baumeln und richtete die andere darauf. Ich schloss die Augen und versuchte meine Konzentration zu sammeln. Nichts passierte.
"Nichts für ungut, ich glaube so wird das nichts", lachte Sebastian, aber nicht so spöttisch, wie man es von ihm gewohnt war. Trotzdem sah ich ihn augenverdrehend an: "Ich kann es nicht steuern. Es passiert immer einfach"
"Irgendwas muss es doch auslösen", überlegte er laut und lief vor dem Denkarium auf und ab. Dabei kaute er angestrengt auf seiner Lippe herum. Frustriert ließ ich mich gegen eine der Säulen sinken und legte den Kopf in den Nacken. Wie konnte ich die Fähigkeit haben alte Magie zu verwenden, aber keinen blassen Schimmer davon haben, wie genau ich das anstellte. Im Kampf geschah es, ohne dass ich großartig darüber nachdachte. Ich fuhr mir durch das Gesicht und anschließend durch die blonden Haare. Leider vertrieb das nicht das erschlagende Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit. Je länger ich da saß und keine Idee hatte, wie ich die Uhr öffnen sollte, desto wütender wurde ich. Vielleicht lag es an den Anstrengungen der Nacht, dem Verlust von Mr. Vanders oder einer Mischung aus allem, aber ich hatte das Gefühl, dass die Fähigkeit, meine Emotionen zu kontrollieren immer mehr dahin schwand.
Sebastian blieb stehen und musterte eindringlich die Uhr. Dann hob sich sein Blick. Etwas änderte sich in seinen Augen, als er mich ansah. Fast so als wäre ihm ein Licht aufgegangen, das mich jetzt aus seinen braunen Augen heraus anstrahlte. Ohne, dass ich verstand warum, verdunkelte sich sein Blick. Abschätzig musterte er mich und sagte: "Dafür ist Mr. Vanders gestorben. Für eine Hufflepuff, die keine Ahnung hat, wie sie ihre Kräfte kontrolliert. Dein Vater wär bestimmt stolz auf dich"
Schon beim ersten Wort war mein Herz in tausend Teile zersprungen. Wir hatten uns doch gerade erst wieder vertragen und dann sagte er so etwas. Immer wieder hallten die Worte in meinem Kopf nach und mein Puls stieg. Ich war verletzt, wütend und kaum noch aufzuhalten.
"Du bist so eine Zeitverschwendung", spottete er. Das war genug. Völlig außer mir sprang ich auf und wollte mich auf ihn stürzen. In diesem Moment warf Sebastian die stark blau leuchtende Uhr hoch. Statt ihm, wurde die Uhr von meiner Wut und mir getroffen. Polternd kam sie auf dem Boden auf. Ich hielt inne und noch bevor ich verstehen konnte, was passiert war, schlossen sich seine Arme um mich. Erst wollte ich ihn von mir schubsen und das vollenden, was ich angefangen hatte, doch dann spürte ich seinen Atem an meinem Hals und hörte seine Stimme ganz leise: "Es tut mir leid. Das war alles gelogen"
Ich weiß nicht, was es war, aber ich glaubte ihm sofort. Vorsichtig löste ich mich von ihm, um in seine Augen sehen zu können. In ihnen lag so viel Wärme, das sie den ganzen Raum zu füllen schien. Seine Armen waren immer noch fest um mich gelegt und er beugte sich zu mir herunter. Mein Herz schlug nicht mehr so schnell, weil ich wütend war, sondern nur wegen ihm. Als er seine Stirn gegen meine lehnte, drohte es abermals zu zerspringen. Ich musste die Luft anhalten, um nicht meinen letzten klaren Gedanken zu verlieren. Es kostete mich viel Überwindung mich zu lösen, aber ich musste sehen, was mit der Uhr war.
"Immer wenn du vor Emotionen kochst, sprudelt die alte Magie aus dir hervor", erklärte Sebastian seine Theorie, als wir beide neben der Uhr knieten. Behutsam hob ich die kleine Amphiole auf und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie war geformt wie eine kantige Träne.
"Du bist ganz schön überzeugend gewesen", gab ich zu. Es tat mir fast schon ein wenig leid, dass ich auf ihn losgehen wollte, aber im Grunde war es das, was er bezwecken wollte. Etwas erschrocken war ich auch über mich selbst, dass ich es tatsächlich getan hätte. Triumphierend zuckte er nur mit den Schultern: "Ich weiß ich bin Slytherin"
"Durch und durch", grinste ich und zog den Korken aus dem Fläschchen. Dann ging ich zum Denkarium. Sebastian folgte mir und gemeinsam beobachteten wir die Erinnerung, wie sie aus der Flasche hinein tropfte. Auffordernd hielt er mir seine Hand hin, ich ergriff sie und wir tauchten ab.

Als wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, standen wir auf einer Wiese umgeben von hohen Bergen und Feldern. Es musste ein sehr heißer Sommer gewesen sein, denn die Pflanzen waren alle halb vertrocknet und am Sterben. Ich ging über die verdorrten Grashalme auf eine Hütte zu, die am Rande des Feldes stand. Sie war einfach und aus Holz gebaut. Vor ihr stand eine Familie, die völlig abgemagert war. Sogar die Kinder hatten deutlich hervortretende Wangenknochen und eingefallene Augen. Ich hörte, wie sie über die Hitze klagten. Dann näherte sich eine Gruppe von Zauberern, die mit erhobenen Armen einen mächtigen Zauber zu vollbringen schien. Noch während sie sprachen, wandelte sich das kraftlos ausgedorrte Grün der Wiese in ein saftiges lebendiges. Auch die Früchte in den Bäumen und den Feldern erstrahlten in reifer Pracht.
"Das muss alte Magie sein", stellte Sebastian erstaunt fest und konnte seine Augen nicht von dem Wunder lösen, das vor uns geschah. Als die Magier fertig waren, dankte die Familie ihnen umschwänglich und die Umgebung verschwamm.

Verwundert sah ich mich um. Wir waren nicht zurück in der Krypta, sondern befanden uns in einer weiteren Erinnerung. Dieses Mal waren wir in einem Holzhaus. In der Mitte stand ein viereckiger Tisch, an dem ein Mann saß. Seine Augen waren gezeichnet von Schmerz, genau wie die Falten in seinem Gesicht. Leer starrte er auf den Boden, so als wäre sämtliches Leben schon aus ihm gewichen. Hinter uns ging die Tür auf die gleiche Gruppe Zauberer trat hinein. Dieses Mal waren sie eine Person mehr. Es war eine junge Frau, die die anderen aufgeregt hinein führte. Sie bedeutete den anderen zu warten und ging zu dem alten Mann hinüber. Sanft hielt sie den Zauberstab vor sein Herz und zog eine kleine schwarze Gewitterwolke hervor, die von roten Blitzen und hellen Funken durchbrochen wurde. Sie leitete die Wolke in ein Glas. Sofort erhellte sich die Miene des Mannes und in seinen Augen war wieder Leben zu erkennen. Doch die Zuschauer waren alles andere als begeistert. Besonders empört war ein Mann mit Spitzbart und Hut: "Was haben sie getan?"
"Ich habe den Schmerz genommen. Wir sind dazu in der Lage den Schmerz zu nehmen", erklärte sie stolz und schraubte das Glas zu. Ein anderer Mann schüttelte ehrfürchtig den Kopf: "Ich kenne diese Art Magie nicht, aber ich spüre, dass sie stark ist"
"Was ist, wenn sie in die falschen Hände gerät?", fragte eine Frau mit zusammen gebundenen Haaren.
"Wir sind Hüter! Wir werden sie beschützen, verstecken oder ähnliches. Es ist unsere Aufgabe die Welt von ihren Schmerzen zu befreien", die Frau mit dem Glas in der Hand hatte eine Art Entschlossenheit in ihren Augen, die ich so noch nie gesehen hatte. Fast schon beängstigend, wie überzeugt sie war. Dann verschwamm die Umgebung wieder.

Erleichtert stellte ich fest, dass Sebastian und ich uns wieder in der Krypta befanden. Noch bevor ich die Szenen noch einmal im Kopf durchgegangen war, um sie zu verarbeiten, packte Sebastian mich an beiden Armen und sah mich aufgeregt an: "Schmerz kann genommen werden!"
Ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte und blickte ihn fragend an.
"Das könnte die Lösung für Anne sein", rief er freudig, aber ich konnte seine Freude nicht teilen. Vielmehr teilte ich die Bedenken der Hüter aus der Erinnerung. Was war, wenn sie Recht hatten? Außerdem wusste ich nicht, wie ich Schmerzen nehmen sollte. Ich konnte ja nicht einmal die Uhr öffnen.
"Sebastian", fing ich sanft an, "Ich weiß doch nicht einmal, wie ich alte Magie anwende. Wie soll ich dann so einen mächtigen Zauber vollbringen?"
"Das müssen wir herausfinden! Das können noch nicht alle Puzzlestücke gewesen sein. Irgendwo muss noch eine Erinnerung sein, die uns sagt, wie wir den Schmerz nehmen können"
"Wir könnten von oben schauen und vielleicht sehe ich dann weitere Spuren", führte ich den Gedanken fort, auch wenn mir nicht ganz wohl bei der Sache war. Jedoch wollte ich Sebastian unbedingt helfen. Nach all dem, was er für mich getan hatte, war es das mindeste was ich tun konnte. Vielleicht lagen die anderen Hüter ja auch falsch und sie hatten unberechtigt Angst vor dieser Ausformung der Magie.
"Ja, ich zeige dir wie man Besen fliegt und dann schauen wir zusammen", rief er begeistert und hielt dann inne, "eine Sache verstehe ich nur nicht. Warum sucht ein böser Mensch wie Victor Rookwood nach einer Möglichkeit Schmerzen zu nehmen?"
"Ich glaube er sucht nicht nach dem Zauber, sondern nach dem genommenen Schmerz. Wenn dieser so mächtig ist, wie der Mann aus der Erinnerung sagt könnte man ihn als Waffe verwenden um die Zaubererwelt zu kontrollieren"

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