Kapitel 6

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Als ich Sebastian Sallow gegenüberstand, fragte ich mich, ob es eine gute Idee sein würde, ihn nach Hogsmead zu begleiten. Eigentlich wollte ich das Buch so schnell wie möglich durcharbeiten, aber sein abwartender herausfordernder Blick weckte etwas in mir, gegen das mein Verstand nur schwer ankam. Also nickte ich und folgte ihm aus der Bibliothek. Dabei bot sich mir die Gelegenheit, unbemerkt seine Kleidung zu betrachten, denn auch er trug nicht seine Schuluniform. Stattdessen hatte er eine grün karierte Hose und ein etwas zu großes weißes Hemd an, das an den Ärmeln hochgekrempelt war. Diese Art Kleidung passte deutlich besser zu seiner verwegenen Art als die strenge Schulkleidung.
"Was machst du Samstags in der Bibliothek?", fragte ich, sobald die Holztür hinter uns ins Schloss gefallen war und wir durch die Halle gingen. Verlegen kratzte Sebastian sich am Kopf, so als würde er überlegen, was er darauf antworten sollte.
"Ich lese nunmal gerne", grinste er schließlich. Ich hob den Kopf. So ganz konnte ich es ihm nicht glauben und er schien meinen Blick zu bemerken.
"Was denn, auch coole Slytherins wie ich, lesen gerne", erläuterte er im Gehen. Für einen Moment konnte ich meine Augen nicht von ihm lösen. Gerade noch rechtzeitig blickte ich wieder nach vorne und bemerkte eine Ritterrüstung, die neben der Tür am Ende der Halle stand. Erschrocken zog ich die Luft ein und machte einen Satz zur Seite, um auszuweichen. Dabei streifte mein Arm das Metall der Rüstung und sie geriet leicht ins Wanken. Empört schüttelte die Rüstung den Kopf und Sebastian lachte kurz auf. Verlegen blickte ich auf den Boden und betrat den angrenzenden Korridor. Am anderen Ende öffnete sich ebenfalls eine Tür und Professor Weasley kam uns entgegen. Ihr Blick blieb an uns hängen und dann lief sie zielstrebig auf uns zu.
"Mr. Sallow, müssten Sie nicht Ihrer Strafarbeit in der Bibliothek nachgehen?", wandte sie sich zunächst streng an Sebastian, der sofort etwas rot wurde und mich ertappt ansah. Ich musste mir auf die Lippe beißen, um zu verhindern, dass ich laut los lachte. Mein Blick war also gerechtfertigt gewesen und Sebastian hatte mehr angestellt als nur gerne zu lesen.
"Mrs. Scribner hat mich früher entlassen heute", antwortete er und klang dabei wie der Musterschüler schlechthin. Wenn er eins zu können schien, dann war es sich den Lehrern braver zu verkaufen, als er offensichtlich war. Prüfend durchbohrte Professor Weasleys Blick Sebastian, doch er hielt diesem unschuldig grinsend stand. Schließlich wandte sie sich an mich: "Eigentlich war ich auf der Suche nach Ihnen Mrs. Eltringham"
Ich wurde nervös. Hatte ich etwas angestellt? Dafür klang ihre Stimme aber zu weich, gerade im direkten Vergleich, wie sie mit Sebastian sprach.
"Mr. Vanders ist mit einer Zauberstab Auswahl auf der Durchreise in Hogsmead. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie Ihren eigenen erhalten, um vernünftig weiterlernen zu können", erklärte sie und die Anspannung wich der Aufregung. Ich sollte heute also meinen eigenen Zauberstab erhalten. Mir drängte sich die Frage auf, wovon ich diesen bezahlen sollte, denn ich konnte mir schlecht vorstellen, dass man die Dinge in der Zaubererwelt geschenkt bekam.
"Ich habe aber gar kein Geld", sagte ich leise zu ihr, weil es mir ein wenig unangenehm war, das zu zu geben. Meine Großmutter hatte das wenige Geld, das wir hatten immer verwaltet und als sie mich nachts weggebracht hatten, habe ich nicht daran gedacht es mitzunehmen.
"Keinen Grund zur Sorge. Meralda Wood hat für Sie soweit alles in die Wege geleitet. In ihrer Eule stand, dass Mr. Vanders Ihnen ihr Erbe übergeben wird", erklärte sie und das Wort Erbe versetzte mir einen Stich. Hogwarts war ein guter Ort um zu Vergessen, wenn es keiner ansprach. Ich schluckte den Schmerz herunter und wollte gerade fragen, wie ich Mr. Vanders finde, aber Professor Weasley kam mir zuvor.
"Mr. Sallow wird Ihnen bestimmt behilflich sein. Ich muss weiter zu Professor Black", verabschiedete sie sich und lief an uns vorbei.
"Zu dir ist sie deutlich netter. Nur weil ich in Slytherin bin", schnaubte er und ging weiter den Korridor entlang. Ich musste lachen: "Du meinst nicht, dass es an der Tatsache liegt, dass du in der ersten Woche schon eine Strafarbeit bekommen hast du Lesefreund"
Verteidigend hob er die Hände: "Ich lese aber wirklich gerne"
Gemeinsam passierten wir eine riesige Doppeltür aus Holz und die spätsommerliche Nachmittagsluft schlug mir entgegen. Tief sog ich den Duft nach gemähtem Rasen und Wald ein. Erst dann erblickte ich die Berge, die Hogwarts säumten. Es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen, den Samstag nicht in der Bibliothek zu verbringen.
"Wofür hast du die Strafarbeit bekommen?", fragte ich und lief neben ihm einen Feldweg lang, der uns vom Schloss weg führte.
"Scribner hat mich nachts in der verbotenen Abteilung erwischt", gab er zu und seine Augen funkelten. Auf meinen fragenden Blick hin erklärte er mir, dass es in der Bibliothek eine Abteilung mit Büchern gab, die von den Lehrern als zu gefährlich für die Schüler betrachtet wurden. Ich kam nicht dazu nach zu fragen, was er da wollte, denn allein die Tatsache, dass es eine Abteilung mit gefährlichen Büchern hab, weckte mein Interesse und ich wollte unbedingt mehr darüber wissen.
"Was sind denn das für Bücher", hakte ich direkt nach und ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
"Aha die neue Fünftklässlerin ist doch nicht so ein Engel, wie ihr Kleid vermuten lässt", sein Blick lag immer noch auf mir und mein Kopf wiederholte stumm "Engel", während ich im Gehen versuchte seinen braunen Augen stand zu halten.
Ich spürte wie seine Hand meinen Arm umfasste und mich ein Stück zu ihm rüber zog: "Guck lieber gerade aus, bevor du wieder fast irgendwo gegenläufst"
Im Augenwinkel sah ich einen Handkarren, der verlassen am Wegesrand stand. Verlegen richtete ich meinen Blick geradeaus auf den Weg, der durch halbhohe Steinmauern von den umliegenden Feldern abgegrenzt war.
"Also was für Bücher stehen in der verbotenen Abteilung?", lenkte ich ab und nahm mir fest vor den Rest des Weges aufzupassen. Ich weiß nicht warum, aber es war mir wichtig, was der regelbrechende Slytherin von mir dachte.
"Verbotene Flüche, gefährliche Tränke, schwarze Magie und sowas", erklärte er gelassen, als würde er vom Wetter sprechen und ich spürte, wie er mich prüfend ansah und gespannt auf meine Reaktion wartete.
"Schwarze Magie?", hakte ich neugierig nach, weil das der Begriff war, mit dem ich am wenigsten anfangen konnte. Zufrieden grinste er: "Eigentlich ist schwarze Magie nur die Magie, die vor Ewigkeiten von einer Hand voll Zauberern als gefährlich und verboten eingestuft wurde." Verstehend nickte ich.
Den restlichen Weg unterhielten wir uns über weniger verbotene Themen, wie Hogwarts oder den Unterricht. Dabei fiel mir auf, dass er ganz anders war als in unserem ersten Duell. Sebastian war auf seine eigene Art und Weise sehr sympathisch und ich verstand jetzt, warum Poppy trotz seiner bissigen Bemerkungen mit ihm befreundet war.
Das Gespräch endete abrupt, als ich eine Ansammlung von vielen kleinen Häusern am Horizont entdeckte. Es waren teilweise schräge Hütten aus Holz oder nicht weniger schräge, mehrstöckige aus Stein. Alles wirkte aneinander gequetscht und gestaucht, auch wenn das Tal noch genügend Platz zu haben schien. Erst als wir näher dran waren, erkannte ich, dass Hogsmead von einem kleinen Bach eingerahmt wurde, den wir über eine kunstvolle Holzbrücke überquerten.
"Es gibt keinen gemütlicheren Ort als Hogsmead", grinste Sebastian, während wir den Fuß auf die steinerne Straße setzten. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. An jeder Ecke gab es etwas zu entdecken und in den Straßen tummelte sich das Leben. Allerhand Magier standen in ausgefallenen Gewändern vor Hauseingängen. Dabei unterhielten sie sich oder boten an kleineren Ständen ihre Waren zum Kauf an. Ein kleiner Tisch erweckte besonders meine Aufmerksamkeit, denn auf einem rot samtigen Tuch lagen allerhand bunte Amphiolen, die teilweise sogar glitzerten.
"Da brauchst du nichts kaufen, das kann ich dir auch brauen", flüsterte Sebastian in mein Ohr, damit der mürrisch dreinblickende Verkäufer ihn nicht hörte. Während er das sagte, hatte er seine Hand an meinem Rücken und schob mich sanft weiter. Als er seine Hand wieder wegnahm, hinterließ er ein prickeln an der Stelle.
"Wir müssen Mr. Vanders finden", sagte ich, als wir weiter durch die engen Gassen gingen. Mir war es ein Rätsel, wie man in dem zauberhaften Durcheinander überhaupt etwas finden sollte, doch Sebastian schien zu wissen, wo er hin lief. Schnell passierte er die kleinen Grüppchen auf der Straße, grüßte hier und dort ein paar Mitschüler und kam letztendlich vor einem etwas größeren Haus stehen. Es war aus grauem Stein und hatte unzählige kleine Erker von denen jeder ein Fenster und ein kleines dunkles Dach hatte. Auf dem Schild über der Tür stand "Die 3 Besen".
"Mr. Vanders wird vermutlich während der Durchreise hier unterkommen", erklärte er und stieß die Holztür auf. Drinnen roch es nach Kaminfeuer und Karamell. Wir befanden uns in einem kleinen Gasthaus, das mäßig besucht war und eher dunkel eingerichtet war. Alles war aus Holz, so auch die Bar hinter der drei große Fässer mit Zapfhähnen waren. Ich schaute zu Sebastian, der seinen Blick suchend durch den Raum gleiten ließ. Er hielt inne bei einem alten Mann mit weißen Haaren, der an einem der hinteren Tische saß. Zwischen seinen Beinen hatte er einen großen Lederkoffer und auf dem Tisch stand eine Tasse Tee. Sebastian flüsterte mir ins Ohr, dass das Mr. Vanders sei und ging dann zielstrebig auf den alten Mann zu. Ich folgte ihm und als wir vor dem Mann zum Stehen kamen, räusperte ich mich.
"Ja bitte?", der Mann sah uns prüfend an und dann erhellte sich seine Miene.
"Ich habe mich schon gefragt, ob sie überhaupt noch zu mir kommen würden", sagte er und stand auf. Verwundert legte ich die Stirn in Falten. Was meinte er? Schließlich war der Nachmittag doch gerade erst angebrochen und ich hatte mich direkt auf den Weg gemacht, nachdem Professor Weasley mir davon erzählt hatte.
"Sie sehen ihm so ähnlich", murmelte er und wuchtete seinen Koffer auf den Tisch, der nicht gerade den Eindruck erweckte, er könne diesen halten. Hilfesuchend schaute ich zu Sebastian, der auch nur mit den Schultern zuckte. Die Schnallen des Koffers schnappten auf und Mr. Vanders zeigte mit dem Arm auf diesen: "Nach Ihnen Miss Eltringham"
Zaghaft näherte ich mich dem Koffer, doch als ich eigentlich Zauberstäbe sehen müsste, sah ich nichts außer Dunkelheit.
"Nur zu, wenn sie auf der Leiter sind geht das Licht automatisch an", sagte Mr. Vanders und ich fragte mich, ob der alte Mann überhaupt noch Herr seiner Sinne war. Ein Blick zu Sebastian verriet mir, dass er es nicht so sonderlich fand, wie ich. Ich musste auf den Tisch steigen, um einen Fuß in den Koffer setzen zu können. Mit meinem Fuß ertastete ich eine Leiter in der Dunkelheit und stieg hinab.
Mr. Vanders hatte Recht behalten und das Licht ging wirklich an. Ich befand mich in einer Art Kaminschacht. Du bist eine Hexe und das hier ist völlig normal. Das wiederholte ich in meinem Kopf so lange, bis ich Boden unter meinen Füßen spürte.
"Sind Sie unten?", rief Mr. Vanders durch die Luke.
"Ja", schrie ich und hörte wenige Sekunden später, wie auch er die Leiter hinab stieg. Zu meiner Enttäuschung war Sebastian ihm nicht gefolgt und ich war mit dem alten Mann alleine. Wir waren umgeben von Regalen, in denen sich die kleinen Schachteln in den unterschiedlichsten Farben nur so stapelten. Ein paar von ihnen lagen auch im Haufen auf dem Boden.
"Ich hatte schon Sorge Ihnen ereilte das Schicksal eines Squibs", murmelte Mr. Vanders und ging eines der Regale ab. Wartend blieb ich in der Mitte des Raumes stehen. Squib? Ich nahm mir fest vor Sebastian oder Poppy später zu fragen, was es damit auf sich hatte. Mr. Vanders wollte ich nicht fragen. Er hatte es mit einer solchen Überzeugung gesagt, dass ich mich schlichtweg nicht traute. Nach wenigen Augenblicke kam Mr. Vanders mit einer grünen Schachtel wieder. Vorsichtig zog er den Deckel ab und reichte mir den darin enthaltenen Zauberstab.
Ich zögerte keine Sekunde und benutze ihn instinktiv. Als Folge meiner Stab Bewegung wurden Kartons aus den Regalen geschleudert und krachten auf den Boden.
"Der ist es nicht", sagte Mr. Vanders und nahm mir den Stab gleich wieder ab.
"Bei diesem hier habe ich ein gutes Gefühl. Holunderholz, 12 Zoll und Drachenherzfaser", verkündete er und reichte mir einen deutlich helleren Stab, der mit Schnitzereien versehen war, die an Dornenranken erinnerten. Kaum berührte ich den Stab, durchflutete mich ein Glücksgefühl, das ein Lächeln auslöste.
"Ich glaube, der ist es", sagte ich und er nickte mir zustimmend zu. Parallel dazu durchsuchte er seine Jackentaschen. Als er es gefunden hatte, drückte er es mir in die Hand. Es war eine schwarze Schachtel kaum größer als ein Laib Brot. Ich schluckte, denn in der Hand hielt ich jetzt das einzige, was von meiner Familie übrig geblieben war. Ein Teil von mir wollte sie öffnen und reinschauen, aber ein anderer Teil wollte diesen letzten Moment mit meiner Familie für sich haben. Die Neugierde verlor dieses Mal und ich steckte die Schachtel in die Tasche des Kleides.
"Ich danke Ihnen Mr. Vanders", sagte ich und drehte mich zur Leiter um. Ich wollte dieser Situation unbedingt entfliehen. Es wäre einfacher gewesen, wenn Sebastian mit runtergekommen wäre. Ich war mir sicher, dass ich mich dann nicht so verloren gefühlt hätte.
"Da bist du ja wieder", lächelnd blickte Sebastian auf, während ich aus dem Koffer kletterte. Er hatte sich an den Nebentisch gesetzt und vor ihm standen bereits zwei große Krüge. Ich ließ mich auf dem Stuhl neben ihm nieder und beobachtete, wie Mr. Vanders aus seinem Koffer herauskam. Mit einem Zug trank er seinen Tee aus, nickte uns zu und eilte dann aus der Tür hinaus.
"Etwas verwirrt der Mann", bemerkte ich und musterte den Krug genauer. Er war aus Glas und die Flüssigkeit darin war goldgelb. Als ich mich mit meiner Nase näherte, wusste ich, dass das Getränk für den karamellartigen Geruch im gesamten Lokal verantwortlich war.
"Findest du? Eigentlich ist Mr. Vanders einer der genialsten Zauberer unserer Zeit", sagte Sebastian und hob dabei seinen Krug an. Gerade, als ich es ihm gleich tun wollte, ertönte ein wahnsinnig lautes Geräusch und plötzlich wurde der gesamte Raum von Licht durchflutet. Mein Blick schoss zur Decke oder zumindest dem was davon übrig geblieben war, denn das Dach war verschwunden.
"Weg hier", rief Sebastian, sprang auf und rannte zur Tür. Ohne nur eine Sekunde zu zögern, lief ich ihm hinterher. Gerade noch aus dem Augenwinkel konnte ich das hässlichste sehen, was mir je begegnet war. Ein riesiger eiförmiger kahler Kopf, der auf einem grau-grünen, bulligen Körper steckte. Was auch immer das war, hatte eine Keule in der Hand, mit der es ausholte.

Im Schatten des Unausgesprochenen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt