Kapitel 24

93 6 0
                                    

Ein Gähnen überkam mich, als ich neben Sebastian Sallow auf dem Boden der Krypta saß. Wir saßen so nebeneinander, dass sich unsere Arme berührten und wieder wünschte ich mir, dass ich die Zeit anhalten könnte. Seine Berührung löste ein Gefühl der Sicherheit und Wärme aus. Nachdem er aufgestanden war, wurde es sofort kalt an meiner Schulter.
"Wir sollten schlafen gehen", sagte er und hielt mir seine Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ohne zu zögern griff ich danach. Kaum stand ich auf meinen eigenen Beinen, wurde mir die Erschöpfung in diesen schmerzlich bewusst. Genau wie die Tatsache, dass wir heute Nacht nichts mehr würden ausrichten können und wir bis zum nächsten Tag warten mussten. Am liebsten hätte ich mir direkt beibringen lassen wie man fliegt und hätte die gesamte Welt  nach weiteren Spuren alter Magie abgesucht, aber ich wusste auch, dass ich schlafen und vor allem morgen den Unterricht besuchen musste damit keiner bemerkte, dass Sebastian und ich uns auf die Suche nach einem Heilmittel und meiner Abstammung begaben.
"Du hast Recht", gab ich zurück und folgte ihm zum Ausgang der Krypta. Gleich würden sich unsere Wege trennen. So gerne wäre ich die ganze Nacht bei ihm geblieben, weil seine Nähe etwas Beruhigendes hatte. Jedoch wollte ich mir nicht vorstellen, was los wäre, wenn wir morgen früh nicht in unseren Schlafsälen lägen. Sebastian blieb vor dem magisch mechanischen Ausgang der Krypta stehen und musterte mich. Ein freches Schmunzel schlich sich auf seine Lippen.
"Du hast da was", flüsterte er kaum hörbar und begann vorsichtig ein paar der Zweige aus meinen blonden Haaren zu ziehen. Wieder schlug mein Herz höher und ich beobachtete gebannt die Bewegung seiner Hand, die genau wie sein Gesicht voller Sommersprossen war. Ich musste die Luft anhalten, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Dann trafen sich unsere Blicke und ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass mein Herz noch schneller schlagen konnte als ohnehin schon. Ich war völlig gefangen in seinen braunen Augen und unfähig mich zu bewegen.
"Wir sollten wirklich schlafen gehen", murmelte er nach ein paar Augenblicken und zog seine Hand zurück. Ein zaghaftes Nicken war das einzige, was ich zustande brachte. Noch einmal sah er mich an und sagte sanft: "Gute Nacht, Elisa"
Dann trat er durch die Tür und verschwand. Für einen Moment stand ich immer noch wie erstarrt vor der Tür. Ein tiefes Seufzen befreite mich und auch ich verließ die Krypta.
Während ich durch die von fahlem Mondlicht erleuchteten Korridore ging, holte mich die Realität wieder ein und die Bilder der Nacht spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Erst der Kampf mit den Anhängern meines Onkels und dann Mr. Vanders, der am Boden des Zeltes gefesselt saß. Ich hätte ihn nicht retten können. Das wusste ich, aber dennoch fühlte ich mich schuldig. Wenn er mir mein Erbe nicht gegeben hätte, dann hätten sie ihn wahrscheinlich nie entführt. Ich musste an etwas Anderes denken. Die Erinnerung daran, wie das Licht in seinen Augen erloschen war, wühlte mich zu sehr auf und noch war ich nicht in Sicherheit. Zwar wollten die Vertrauensschüler, die nachts hin und wieder durch die Korridore liefen, mir nichts Böses, aber sie würden mich zu Professor Black bringen. Das Letzte, was ich jetzt wollte, war dem Schulleiter zu erklären, warum meine Schuluniform zerrissen und ich selbst voller Blätter und Dreck war. Ein Blick in die Spiegelung eines der Fenster verriet mir, dass Sebastian zwar ein paar Äste entfernt hatte, aber bei weitem nicht alle. Allein der Gedanken an diesen Moment ließ mein Herz wieder schneller schlagen und ein Grinsen breitete sich auf meinen Lippen aus. Sebastian Sallow redete wieder mit mir. Mehr als das. Ich hatte das Gefühl, ihm näher zu sein als je zuvor. Das Gefühl stärkte mich und erweckte den Eindruck, dass ich es mit der ganzen Welt aufnehmen konnte. Dennoh schritt ich ohne erleuchteten Zauberstab durch die Flure, bedacht darauf kein Aufsehen zu erregen.
Ich überwand die enge Wendeltreppe und fand mich in dem Flurstück vor meinem Gemeinschaftsraum wieder. Zügig ging ich auf die Fässer, mich jede Sekunde in der Sicherheit meines Schlafsaales zu wissen.
"Elisa Eltringham", erklang es scharf und vertraut direkt von der Treppe, die ich vor wenigen Sekunden selbst noch genommen hatte. Erschrocken fuhr ich herum und blickte direkt in das entsetzte Gesicht von Portia. Ihr sonst warmes und freundliches Lächeln war verschwunden. Etwas unsanft packte sie mich am Arm und zog mich hastig in den Gemeinschaftsraum.
"Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?", zischte sie, sobald sich die Pforte geschlossen hatte. Dann musterte sie mich einmal von oben bis unten: "Und wo zur Hölle warst du?"
Das schlechte Gewissen überrollte mich und ich hielt es nicht aus, ihr in die Augen zu schauen. Ich brachte kein Wort heraus.
"Man Elisa, ich bin Vertrauensschülerin. Ich habe kein Problem damit, bei euch mal ein Auge zuzudrücken, aber bei einem so derartigen Regelverstoß kann mich das echt in Teufelsküche bringen. Ich mein sieh dich an du bist voller Wald und es ist mitten in der Nacht. Ich hätte eigentlich gar nicht fragen müssen, wo du gewesen bist, weil du offensichtlich im verbotenen Wald warst. Solche Verstöße müssten umgehend Professor Black gemeldet werden."
Portias Worte hatten sich regelrecht überschlagen, weswegen sie etwas atemlos vor mir stand und mich eindringlich musterte. Plötzlich wandelte sich ihr wütender Gesichtsausdruck und ich spürte ihre Arme um meinen Oberkörper: "Ganz abgesehen davon, habe ich mir solche Sorgen um dich gemacht!"
Da war wieder die liebevolle, direkte Portia, die ich so liebte, aber das verstärkte mein schlechtes Gewissen nur umso mehr.
"Es tut mir so leid", brachte ich dann hervor und löste mich aus ihrer Umarmung. "Sollte es auch", pflichtete sie bei, während sie ein paar Blätter und Äste aus meinen Haaren pflückte.
"Bringen wir es hinter uns. Ich habs verdient", seufzte ich und drehte mich in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Als ich bemerkte, dass sie mir nicht folgte, hielt ich inne. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah, wie sie angestrengt auf ihrer Lippe kaute und nachdachte. Dann klärte sich ihr Blick, sie griff wieder meinen Arm und zog mich auf eines der vielen Sofas. Sie setzte sich auf ein Gegenüberliegendes: "Ich kann dich nicht verpetzen, auch wenn ich dann riskiere nächstes Jahr keine Vertrauensschülerin mehr zu sein. Dafür möchte ich aber eine Erklärung"
Erleichtert nickte ich und ließ mich in dem Sofa etwas nach hinten sinken. Die weichen Polster in meinem Rücken gaben nach, so wie fast auch ich nachgegeben und ihr alles erzählt hätte. Doch ich riss mich gerade noch zusammen und berichtete Portia so viel, dass sie zufrieden war, aber bei weitem nicht alles. Dafür strafte mich mein wieder aufkeimendes schlechtes Gewissen. Sie hatte die Wahrheit verdient. Nur war ich noch nicht bereit, sie jemandem zu erzählen. Viel zu große Sorge hatte ich davor, was passieren würde, wenn mehr Menschen als Sebastian, Ominis und ich davon wussten. Ich wusste nicht, wie die Lehrer reagieren würden oder ob es mich in größere Gefahr brachte, wenn Victor herausfand, wer genau ich war. Bisher wusste er nicht, wie ich aussah und das war mein größter Vorteil.
"Ich habe mich mit Sebastian im verbotenen Wald getroffen", fing ich an und Portias anfänglich kritische Miene wandelte sich in ein breites Grinsen. Das schlechte Gewissen verdrängte ich damit, dass ich mir einredete, sie nicht anzulügen, sondern das, was passiert war, nur ein bisschen anders zu erzählen. Schließlich habe ich Sebastian getroffen, wenn man die Vasallen von Rookwood außen vor lässt.
"Der Teil in mir der Vertrauensschülerin ist denkt sich warum ihr euch nicht einen weniger verbotenen Ort zu einer weniger unerlaubten Uhrzeit hättet aussuchen können", kurz wurde sie wieder strenger und dann sprudelte sie in ihrer gewohnten Art frei heraus, "Aber der andere Teil in mir ist ganz aufgeregt und möchte jedes Detail wissen!"
"Wir wollten nicht, dass es jemand mitbekommt, weil es Ruby ja so schlecht geht mit der Situation", log ich ihr eiskalt ins Gesicht. Parallel erschrak ich mich über mich selbst, wie gut mir das mittlerweile gelang. Verstehend nickte Portia und sah mich abwartend an.
"Und dann haben wir uns wieder vertragen", fügte ich schnell hinzu. Immerhin stimmte wenigstens das vollständig. Auf ihrer Stirn zeichneten sich Falten ab und sie schien das zu durchdenken, was ich gerade erzählt hatte.
"Und dann seid ihr in einen Kampf mit Wölfen geraten oder warum siehst du so", einen Moment hielt sie inne, so als würde sie nach dem am wenigsten beleidigenden Adjektiv suchen, "zerrupft aus."
"Nein so andere wirklich hässliche Tierwesen, die aussehen wie bucklige Frösche", antwortete ich atemlos in der Hoffnung, dass ihr das als Erklärung reichen würde.
"Sumpfkrattler", half sie mir auf die Sprünge und selten hatte ich einen passenderen Namen für etwas gehört. In ihrem Blick sah ich, dass sie mir nicht ganz glaubte, aber trotzdem sagte sie nichts weiter. Vielleicht wusste sie, dass noch mehr dahintersteckte, wollte mich jedoch nicht zwingen, ihr etwas zu sagen. Portia war ein Mensch, der nachfragte, aber niemals, wenn sie bemerkte, dass ihr Gegenüber nicht mehr erzählen wollte. Dafür war sie zu Rücksichtsvoll und Höflich.
"Und du und Sebastian seid jetzt?", hakte sie nach und ihre grünen Augen schienen mich dabei zu durchbohren. Ich überlegte. Was waren wir? Freunde, die sich halfen? Freunde, die sich an den Händen hielten? Freunde, die das Leben füreinander aufs Spiel setzten? Für einen Moment stellte ich mir vor, wie es sein würde, wenn wir mehr als Freunde wären. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er mich in den Arm nahm, sich zu mir herunterbeugte und seine Lippen auf meine senkte. Mein Herz setzte aus und für einen Moment war für nichts anderes in meinem Kopf Platz als für diese Vorstellung. Portias fragendes Räuspern zwang mich zurück in die Realität.
"Freunde", platze es dann aus mir heraus und als sich mein Puls wieder beruhigt hatte, fügte ich ein "Was denn auch sonst?" hinzu. Ich wollte nicht, dass jemand wusste, wie ich über Sebastian Sallow dachte oder besser, was ich ihm gegenüber fühlte. Denn ich wurde die Angst nicht los, dass er die Dinge nicht so sah, wie ich. Schließlich hatte er Ruby abgewiesen und sie war mit ihren dunklen Locken so viel schöner als ich. Außerdem war Sebastian so beschäftigt mit der Suche nach einem Heilmittel für seine Schwester, dass für solche Gedanken bestimmt kein Platz in seinem Kopf war. Sebastian war im Gegensatz zu mir fokussiert auf sein Ziel und ließ sich nicht durch so alberne Vorstellungen ablenken. Etwas Wehmut keimte in mir auf, denn diese Vorstellung war wunderschön und ich wusste schon jetzt, dass ich gleich in meinem Bett an nichts Anderes denken können würde, auch wenn ich es nicht sollte.
"Freunde", wiederholte Portia und musterte mich dabei immer noch scharf. Sie hatte meine Laune die letzten Tage mitbekommen und war bestimmt in der Lage, sich ihren Teil dazu zu denken. Vielleicht wusste sie auch schon, dass das, was ich gesagt hatte, in Bezug auf Sebastian nicht ganz der Wahrheit entsprach. Jedenfalls würde das ihren Blick erklären. Dann wurden ihre Züge jedoch weicher, während sie sich vom Sofa erhob.
"Tu mir nur einen Gefallen und treffe dich mit deinen Freunden so, dass ich nicht noch einmal in die Verlegenheit komme dich eigentlich ausliefern zu müssen", sagte sie und betonte dabei das Wort Freunde ein Stück zu sehr und mein Verdacht bestätigte sich. Zum Glück bestand sie nicht darauf, mich weiter zu löchern, sondern ging langsam in die Richtung von unserem Schlafsaal.
"Was hast du eigentlich außerhalb gemacht?", wechselte ich schnell das Thema und folgte ihr. Vor der runden Tür blieb Portia noch einmal stehen: "Ruby hat so viel geweint, dass ich sie in den Krankenflügel bringen musste, weil sie Nasenbluten bekommen hat. Vielleicht erklärst du ihr morgen auch, dass ihr nur Freunde seid"
Während ich mich leise in mein Bett legte, fragte ich mich, ob ich mich bei Ruby entschuldigen sollte. Allerdings konnte ich nichts für die Situation und sie hatte sich mir gegenüber alles andere als fair verhalten, weswegen ich es auch nicht einsah ihr irgendwas zu erklären.

Im Schatten des Unausgesprochenen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt