Kapitel 17

84 6 0
                                    

Auch, wenn die Mädchentoilette im Turm für Verteidigung gegen die dunklen Künste Fenster hatte, bemerkte ich erst, wie spät es war, als ich durch die menschenleeren Korridore lief. Mein Kopf musste zu sehr mit allem Anderen beschäftigt gewesen sein, sodass ich die Zeit und das Abendessen völlig vergessen hatte. Auf dem Weg zurück in meinen Gemeinschaftsraum kam ich auch an der Treppe vorbei, hinter der sich der Eingang zur Krypta befand. Krampfhaft richtete ich meinen Blick daran vorbei. Ich wollte nicht riskieren, Sebastian dabei zu sehen, wie er aus dem Schrank hinauskam. Vermutlich war er sowieso längst in seinem Gemeinschaftsraum. Ein Seufzen überkam meine Lippen, denn ich wusste, dass ich ihm in Hogwarts früher oder später ohnehin über den Weg laufen würde. Trotzdem konnte ich unsere nächste Begegnung hinaus zögern. Vielleicht sogar so lange, dass sich mein Magen nicht mehr zusammenzog, wenn ich an sein abfälliges Lachen dachte.
Zum Glück begegnete ich überhaupt keinem meiner Mitschüler auf dem Weg durch die Flure. Auch der Gemeinschaftsraum war so gut wie leer. Wahrscheinlich war sogar schon die Sperrzeit angebrochen und ich konnte froh darüber sein, dass ich keinem Lehrer oder Vertrauensschüler in die Arme gelaufen war. Dieser Umstand hob meine Laune trotzdem nicht an. Zwar musste ich weder weinen noch hatte ich das Bedürfnis etwas zu zerstören, aber glücklich war ich auch nicht. Dementsprechend musste ich ausgesehen haben, als ich durch die runde Holztür zu meinem Schlafsaal trat. Sofort richteten sich alle vier Augenpaare meiner Mitbewohnerinnen auf mich. Innerlich flehte ich, dass sie mich einfach in Ruhe lassen würden. Ich war müde und wollte die Szenen des Nachmittags nicht noch einmal durchleben. Außerdem wollte ich nicht, dass alle wussten, wie gemein Sebastian zu mir gewesen war oder wie blöd ich mich selbst verhalten hatte. Poppy war die erste, die etwas sagte. Ihre braunen Augen hatten mich sorgenvoll angesehen, als sie mich fragte, ob bei mir alles in Ordnung war.
"Alles gut. Ich war den ganzen Tag in der Bibliothek", log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Mir gefiel es nicht, dass ich das tat, aber in diesem Moment hatte ich keine andere Wahl. Dann zwang ich mich zu einem Lächeln. Den Blicken von Poppy und den anderen nach zu urteilen glaubten sie mir nicht, aber sie fragten nicht weiter nach. Ich war dankbar, sie nicht ein weiteres Mal anlügen zu müssen und legte mich auf mein Bett. Erst als ich die weiche Matratze unter mir spürte, wurde mir bewusst, wie kaputt ich war. Leider nicht kaputt genug, um nicht von meinen Gedanken wach gehalten zu werden. Auch nachdem das Licht gelöscht wurde, wiederholte sich der Streit, die Äußerungen und vor allem das Lachen immer wieder vor meinem inneren Auge. Ich versuchte nicht, es zu unterdrücken oder an etwas Anderes zu denken, weil ich die Hoffnung hatte, dass es von selbst weniger werden würde.

Irgendwann schlief ich immer ein. So wie letzte Nacht, aber als ich mich selbst am nächsten Morgen im Spiegel sah, wusste ich, dass es dieses Mal erst sehr spät gewesen war. Ich beugte mich über das Waschbecken im Waschraum und ließ das Wasser in meine Hände laufen. Kalt traf es mich in meinem Gesicht und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass es mir wieder Leben einhauchte. Doch als ich wieder die Augen öffnete, sah ich immer noch müde aus, nur dass ich zusätzlich nass war. Seufzend griff ich mir das Handtuch. Es würde nichts helfen. Vor dem Frühstück konnte ich mich drücken und in Geschichte der Zauberei würde ich Sebastian nicht sehen, aber heute Nachmittag in Kräuterkunde würde kein Weg mehr an ihm vorbei führen.
Nach Geschichte der Zauberei und dem Brot, das Poppy mir netterweise vom Frühstück mitgebracht hatte, spürte ich keine Wut mehr. Das Gefühl, das ich jetzt in mir trug, war um einiges schlimmer. Es war ein Gefühl, das ich bisher nie gespürt hatte. Ich wusste nicht was es war. Ich wusste nur, dass Sebastian, nachdem was er gesagt hatte, nichts mehr mit mir zu tun haben wollte; er vermutlich nie wieder meine Hand nehmen würde. Der Gedanke daran tat weh und begleitete mich die Stufen des warmen Gewächshauses hinunter. Egal wie fest ich mir vorgenommen hatte, nicht direkt nach ihm zu suchen, taten meine Augen es trotzdem. Sebastian Sallow stand am hintersten Pflanztisch und sofort trafen sich unsere Blicke. Noch bevor ich den Ausdruck in seinem Gesicht deuten konnte, schaute ich schnell weg und suchte mir den Tisch, der am weitesten von ihm weg stand. Dieses Mal schaffte es der Unterricht von Professor Garlick nicht mich abzulenken, egal wie sehr ich versuchte, mich auf ihre Worte zu konzentrieren. Ich konnte nur daran denken, wie sehr es weh tat, dass er nicht ein einziges weiteres Mal zu mir herüber geblickt hatte.
So verliefen alle Unterrichtsstunden der nächsten Tage und mit jedem weiteren stieg die Gewissheit, dass sich nichts mehr ändern würde. Also tat ich das einzig Vernünftige und akzeptierte es. Mein Buch half mir dabei, auf andere Gedanken zu kommen, wenn ich das Gefühl hatte, es nicht mehr auszuhalten und mit ihm sprechen zu müssen. Jede freie Sekunde verbrachte ich vor dem Buch und war mittlerweile so gut wie durch. Nur noch einige Kapitel über Zauberkunst fehlten. Das Buch war nicht nur eine Ablenkung von Sebastian, sondern auch von meinem Erbe. Ich fühlte mich so verloren mit diesem riesigen Rätsel, sodass ich diesem feige aus dem Weg ging. Einerseits ärgerte ich mich wahnsinnig über mich selbst, denn ein Teil von mir brannte darauf herauszufinden, was es mit der alten Magie auf sich hatte, aber ein anderer hatte Angst vor dem was ans Tageslicht kommen würde. Gerade, wenn ich an die beiden Brüder dachte, die sich bis aufs Blut gestritten hatten. Ganz abgesehen von der Wahrheit über meine Eltern, bei der ich auch Sorge hatte, was sie beinhaltete.
Jeden Abend beim Ablegen der Kette hatte ich das Gefühl, dass sie mich vorwurfsvoll ansah. Tief in meinem Inneren wusste ich aber, dass es mein eigener Vorwurf war, der sich in dem Silber spiegelte. Irgendwann redete ich mir ein, dass ich mich erst wieder damit auseinandersetzen sollte, wenn ich das Buch durch hatte, um bestmöglich auf alles vorbereitet zu sein. Damit belog ich mich jedoch nur selbst, denn ich wusste, dass die wenigen Seiten über Zauberkunst nicht über mein Versagen entscheiden würden, aber es beruhigte mein Gewissen.
Ich saß auf meinem Bett an einem Samstagmorgen, als der Vorwurf der Kette beim Umlegen besonders stark schien. Entschlossen griff ich mir das Studienbuch und zog mir eines der Kleider an, die mir Portia geschenkt hatte. Meine Mitbewohnerinnen waren allesamt schon unterwegs. Sie hatten mir zwar wie jedes Mal angeboten, mich zu ihren Aktivitäten mitzunehmen, aber die letzten Tage hatte ich alles abgelehnt. Also verließ ich alleine den Gemeinschaftsraum und machte mich auf den Weg zur Bibliothek. Als ich die Halle mit dem Meerjungfrauen Brunnen betrat, sah ich Mary-Anne und Poppy beide in Reitklamotten auf diesem sitzen und sich unterhalten. Es dauerte keine Minute, bis sie mich entdecken und auf mich zu kamen. Demonstrativ blieben sie vor mir stehen und versperrten mir den Weg.
"Das hat jetzt ein Ende!", sagte Mary-Anne streng und verschränkte die Arme vor der Brust. Poppy warf ihr für den Ton einen warnenden Blick zu, doch dann baute sie sich auch etwas auf. Eigentlich wollte ich mit Abwehr reagieren, aber ich konnte nicht. Sie sorgten sich und ich wusste sofort, worauf sie hinaus wollten. Vermutlich hatten sie genau besprochen, wie viel Zeit sie mir gaben, um mich zu verstecken und wann sie eingreifen würden. Ich hätte wissen müssen, dass sie mich mein Spiel nicht ewig weiterspielen ließen. Schließlich war ich eine von ihnen und Hufflepuffs sorgten füreinander.
"Was habt ihr vor?", fragte ich also ohne auch nur einen Hauch von Ärger in der Stimme. Ich wusste, dass ich sie brauchte, um wieder die Balance zu finden. Ich wusste, dass sie mir die Leichtigkeit wiedergeben konnten, die ich seit dem Vorfall verloren hatte. Und ich war selbst reflektiert genug, um zu wissen, dass ich diese mit ihrer Hilfe deutlich schneller wieder finden konnte.
"Du kommst mit in die Ställe. Die Mondkälber haben ganz viel Nachwuchs bekommen und wir brauchen deine Hilfe", sagte Poppy zaghaft und ihrem Gesicht nach zu urteilen rechnete sie jede Sekunde mit einer abwehrenden Reaktion von mir. Doch die würde sie nicht bekommen, denn ich konnte mir in dem Moment nichts Schöneres vorstellen, als wieder Zeit mit den beiden zu verbringen. Jetzt wo sie so vor mir standen, merkte ich erst, wie sehr ich sie die letzten Tage vermisst hatte. Fast so sehr wie Sebastian.
"Ok", nickte ich. Erstaunen breitete sich in beiden Gesichtern aus. Dann hakten sie sich links und rechts bei mir ein und gemeinsam liefen wir zu der Tür die uns den Weg zu den Ländereien freigeben würde.
Dieser Samstag war einer der letzten schönen Herbsttage dieses Jahr. Die Sonne ließ die letzten dunklen Blätter an den Bäumen leuchten und noch mehr erstrahlten die, die bereits auf den Boden gefallen waren. Abgerundet wurde das von zahlreichen Kürbissen, die überall herumstanden.
"Danke", murmelte ich leise und verlegen, als wir über die Wiese zu den Tiergehegen liefen. Sofort blieben die beiden stehen und sahen mich an.
"Elisa, nichts zu danken! Wir sind füreinander da und das weißt du", lachte Mary-Ann warm und lief dann weiter. Sie hatte Recht und ich fragte mich, warum ich ihre Angebote nicht eher angenommen hatte. Wahrscheinlich weil ich die paar Tage des Einsiedlerlebens dringend gebraucht hatte. In meinem Dorf war ich schließlich immer alleine gewesen und musste solche Sachen aussitzen. Aber mit jeder Minute, die ich mit den Mädchen verbrachte, besserte sich meine Laune und ich fühlte mich allmählich wieder wie ich selbst.
Spätestens als ich durch das Gatter trat und die Mondkälber mit ihren langen Hälsen und riesigen Glubschaugen auf mich zugerannt kamen, konnte ich mir ein herzliches Lachen nicht mehr verkneifen. Es mussten um die zehn gewesen sein, denn als sie bei mir ankamen, schafften sie es, mich von den Füßen zu reißen und umzingelten mich im Anschluss. Ehe ich mich versah, war ich zu einem menschlichen Mondkalb-Spielplatz geworden. Laut lachte ich dabei. So laut, dass ich hörte, wie Poppy und Mary-Ann ebenfalls anfingen. So frei hatte ich mich lange nicht gefühlt.
Es dauerte einen Moment, bis sie von mir abließen und das auch nur, weil Poppy sie mit Essen von mir weg lockte. Völlig außer Atem klopfte ich mir vergeblich den Dreck von dem Kleid und sah mich um. Dann sah ich ihn.
Sebastian Sallow stand ein gutes Stück entfernt am Tor zu den Tierwesen und beobachtete mich. Unsicher erwiderte ich seinen Blick, doch sobald er das bemerkte, veränderte sich etwas in seiner Körperhaltung und er ging. Mary-Ann hatte meinen Blick bemerkt: "Sebastian, huh?"
Ich wusste, dass es an der Zeit war, die Wahrheit zu sagen, also nickte ich und starrte noch einen Moment an den Ort, wo er gestanden hatte. Es erinnerte mich daran, wie sehr er mir fehlte. Oft dachte ich an den Moment zurück, bei dem er im Unterricht meine Hand gegriffen und nicht mehr losgelassen hatte. Wie seine Finger dabei sanft über mein Handgelenk strichen.
"Ich habs sowieso geahnt. Ihr habt so viel Zeit miteinander verbracht und plötzlich gar nicht mehr und dann seid ihr beide seit Tagen schlecht drauf", sagte Mary-Ann und setze sich auf die Mauer, die das Gehege der Mondkälber von den anderen abgrenzte. Ich nahm neben ihr Platz und beobachtete für einen Moment Poppy, die am anderen Ende des Geheges versuchte, die Mondkälber so zu füttern, dass alle etwas abkriegten.
"Wir haben uns gestritten, denke ich", gab ich kleinlaut zu und es auszusprechen versetzte mir einen Stich. Verstehend nickte Mary-Ann, aber sagte nichts weiter, sodass ich gezwungen war, weiter zu erzählen.
"Er hat mich ausgelacht und mich ignorant genannt", sagte ich und atmete tief durch, bevor ich fortfuhr, "und dann bin ich auch entsetzlich gemein geworden"
"Wer kanns dir verübeln? Sebastian kann echt fies werden, wenn man seinen Nerv getroffen hat. Typisch Slytherin", bei dem letzten Satz verdrehte sie gespielt die Augen und lachte.
"Irgendwie kann ich nicht drüber lachen"
"Meinst du nicht, das wird wieder?", mit den Worten legte sie mir ihren Arm über die Schulter und drückte mich an sich. Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Keine Ahnung, ob das wieder werden würde. Dafür müssten wir uns länger als zwei Sekunden ansehen können.
"Sebastian kann ziemlich dickköpfig sein", sagte Poppy, die durch das Gehege zu uns gelaufen kam, "Der bekommt sich bestimmt wieder ein"
So gerne ich ihr glauben wollte, wusste ich, dass das nicht die ganze Wahrheit war und sie das vermutlich anders sehen würde, wenn sie alles wüsste. Für den Moment sollte ich das aber weiterhin für mich behalten. Das Rätsel um die alte Magie und die Brüder war mein Erbe und wenn, dann sollte ich das alleine lösen können.

Im Schatten des Unausgesprochenen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt