Kapitel 25

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Trotz - oder vielleicht auch sogar wegen - der wenigen Stunden Schlaf war ich die erste aus meinem Schlafsaal, die am nächsten Morgen erwachte. Es war noch dunkel und das fahle Licht der Sterne fiel durch die kleinen runden Fenster über unseren Köpfen. Die Nächte waren schon spürbar länger geworden. Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne erst im Laufe der ersten Unterrichtsstunde auf. Ich versuchte lautlos zu gähnen und sah mich in meinem Schlafsaal um. Rubys Bett war immer noch leer, aber umgeben von zahlreichen Papiertüchern. Im Bett neben mir lag Portia auf dem Bauch, begraben unter ihren roten Locken. Mary-Ann und Poppy schliefen beide ebenfalls fest und hatten dabei die Bettdecke bis an ihre Gesichter gezogen.
Als ich meine Füße auf den kleinen gewebten Teppich vor meinem Bett absetzte, spürte ich die kalte Luft an meinen Knöcheln. Abermals überkam mich ein Gähnen, aber auch die Erkenntnis, dass, wenn ich jetzt Frühstücken gehen würde, ich wahrscheinlich alleine sein würde. Das würde mir erstmal die Fragen zur letzten Nacht von meinen Mitbewohnerinnen ersparen. Wenn ich an das dachte, was letzte Nacht passiert war, war da zunächst nur Sebastian. Seine braunen Augen, seine geschickten Flüche, die mich gerettet hatten und seine Arme, die sich fest um mich geschlossen hatten. Erst danach kamen die anderen Erinnerungen. Die schrecklichen Erinnerungen an Mr. Vanders. Ich fuhr mir durch das verschlafene Gesicht. Wieder sprangen meine Gedanken zu Sebastian, dieses Mal sah ich den Moment vor mir, in dem er mir die Blätter aus den Haaren zog. Warum musste er so präsent in meinem Kopf sein? Ich sollte an anderes denken, aber ich wollte nicht. Es fühlte sich so schön und warm an immer wieder an seine Hände zu denken, die so behutsam in meinen Haaren gewesen waren.
Nachdem ich meine Schuluniform angezogen hatte betrat ich den angrenzenden Gemeinschaftsraum. Vereinzelt saßen müde aussehende Hufflepuffs an den Schreibtischen teilweise mit gestresstem Gesichtsausdruck, weil sie die letzten Schularbeiten noch vor dem Unterrichtsbeginn erledigen mussten. Das erinnerte mich daran, dass ich eigentlich auch noch eine Ausarbeitung über Flubberwurmschleim in Zaubertränke abgeben musste. Schnell begab ich mich in die große Halle, aß ein paar Scheiben Toast mit Marmelade und ging dann in die Kerker. So früh, wie es immer noch war, war es nicht verwunderlich, dass ich alleine war. Ich zog Pergament und Feder hervor und schrieb das auf woran ich mich noch aus meinem Studienbuch erinnerte. Nach zwei beschriebenen Seiten Pergament und meinem immer leerer werdenden Kopf füllte sich das Klassenzimmer. Ich steckte die Feder in die Halterung und betrachtete mein Werk. Mein Aufsatz hatte keinen roten Faden und mein Schriftbild verriet, dass ich es gerade erst fertiggestellt hatte, aber das war mir egal. Ich war froh überhaupt etwas abgeben zu können.
Kurz vor Beginn der Stunde setzte Poppy sich neben mich. Zu meiner Erleichterung fragte sie nicht, wo ich gewesen war, sondern erzählte mir nur von den Mondkälbern und ihrem Abend. Mich beschlich der Verdacht, dass Portia ihr etwas erzählt hatte.
Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich auf die alte Holztür blickte, in der Hoffnung, dass Sebastian Sallow jeden Augenblick eintreten würde. Doch als Professor Sharp mit seinem Unterricht begann, gab ich auf.
Die Stunde von Professor Sharp zog sich in die Länge. Geschichte der Zauberei im Anschluss sogar fast noch mehr. Gerade als ich das Gefühl hatte, dass es nie enden würde, beendete Professor Binns den Unterricht. Die Langeweile wich der Aufregung, als ich meine Sachen zusammen packte. Zwar war Sebastian den ganzen Tag nicht im Unterricht gewesen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er sein Wort halten würde und mir zeigte, wie man fliegt.
"Was hast du gleich vor?", fragte Poppy, nachdem sie ebenfalls ihre Sachen zusammengeräumt hatte. Sie trug ihre Bücher vor ihrer Brust und verließ vor mir das Klassenzimmer. Gerade als ich antworten wollte, sah ich, dass Sebastian draußen neben der Tür lehnte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah gelangweilt in der Gegend umher. Als er uns entdeckte, stieß er sich schwungvoll von der Wand ab und kam auf uns zugelaufen. Poppys Blick gingen zwischen uns hin und her und dann breitete sich ein wissendes Grinsen auf ihren Lippen aus: "Aha ich versteh schon"
Bevor sie um die Ecke trat, hörte ich sie noch einmal kichern. Inständig hoffte ich, dass Sebastian die Situation nicht so deutete, wie ich es tat.
"Nervös?", fragte er dann mit einem herausfordernden Gesichtsausdruck. Ich schüttelte den Kopf und folgte ihm hinaus auf die Ländereien. Natürlich war ich nervös, aber eher wegen ihm und nicht wegen der Tatsache, dass ich gleich fliegen lernen würde. Wir traten aus dem angelegten Garten vor dem Tor heraus und gingen an den hohen Schlossmauern vorbei. So unmittelbar neben diesen wurde mir wieder bewusst, wie groß diese Schule und wie klein ich war.
"Wo warst du heute morgen?", fragte ich, während wir nebeneinander her gingen.
"Ich hab Sharp vorher gesagt, dass ich ganz fürchterliche Kopfschmerzen habe", erklärte er schulterzuckend und fuhr dann fort, "Dann meinte er ich soll mich ruhig ausruhen"
"Oh gehts dir besser?", fragte ich ernsthaft besorgt und Sebastian fing laut an zu lachen. Ich verstand nicht, was daran so witzig war. Empört stemmte ich meine Arme in die Seiten. Wenn es ihm nicht gut ging, sollte er sich besser ausruhen. Ich ging meine Erinnerungen durch, um sicher zu gehen, dass er nicht von einem Fluch getroffen wurde, dessen Wirkungen sich erst später zeigten und der damit nachhaltige Schäden verursacht hatte. Immer noch grinsend bemerkte er meine ernste Miene.
"Gott Elisa das war eine Lüge damit ich weiterschlafen kann", sanft stupste er mir in die Seite und ging dann weiter. Seine Berührung kitzelte und ich konnte mir ein Lachen nicht mehr verkneifen.
"Hast du keine Angst aufzufliegen?", hakte ich nach, nachdem ich ihn eingeholt hatte.
"Ich glaube Sharp weiß ganz genau, dass das eine Lüge war, aber seinem Liebling lässt er einiges durchgehen", manchmal konnte er so selbstgefällig sein. Vermutlich stimmte es aber was er sagte. Alle wussten, dass Sharp besonders nett zu Slytherins war und noch netter zu Schülern, die ein Ohnegleichen in Zaubertränke hatten. Beides erfüllte Sebastian.
Schließlich blieben wir vor einer Besenhalterung mit gut 20 Besen darin stehen, die alle aus unterschiedlichen Hölzern gefertigt waren. Einige von ihnen hatten glatte Borsten und andere sahen hingegen aus, als wären sie aus irgendwelchen Ästen im Wald zusammengetragen worden. Über einem Viertel der Besen war ein Schild mit "Übungsbesen" angebracht.
"Madam Kogawa hat gesagt, dass du einen der Übungsbesen nehmen kannst, bis du einen eigenen hast", erklärte er und nahm der Reihe nach die Übungsbesen in die Hand, so als würde er den besten aussuchen. Nachdem er alle einmal in der Hand hatte, reichte er mir den zweiten. Dann griff er sich einen hellbraunen, der keine Besonderheiten aufwies, außer, dass er vorne etwas hinein geschnitzt hatte. Aus der Entfernung konnte ich nicht erkennen, was es war, also ließ ich meinen Besen auf den Boden fallen und griff nach seinem. Sofort verstand er, was ich vorhatte und brachte etwas Distanz zwischen mich und seinen Besen.
"Kommt gar nicht in frage Eltringham!", rief er und drückte mich dabei mit der einen Hand weg, während er in den der anderen den Besen so weit wie möglich von mir entfernt hielt.
"Was steht da?", lachte ich, weil ich so gut wie keine Chance hatte, gegen ihn anzukommen. Trotzdem gab ich nicht auf.
"Du wirst keine Ruhe geben, bis du es gesehen hast, oder?", rollte er dann mit den Augen und ließ von mir ab. Dann gab er mir seinen Besen und ich erkannte, was vorne hinein geschnitzt war.
"Seb", prustete ich los, weil ich mir keinen unpassenderen Spitznamen für ihn vorstellen konnte.
"Ich war 11, ok?", grinste er dann leicht beschämt, räusperte sich und nahm mir den Besen wieder ab. Dann ließ er ihn auf den Boden sinken, hob seine rechte Hand darüber und sagte laut und deutlich "auf". Ohne, dass er mich anwies, wusste ich, dass ich ihm nachmachen sollte. Genau so wie ich wusste, dass er dieser unangenehmen Situation damit ein Ende setzen wollte. Diesen Gefallen tat ich ihm. Nach ein paar Versuchen hatte ich den Übungsbesen in meiner Hand.
"Jetzt musst du dich nur drauf setzen und abstoßen", erklärte er und tat genau das. Sofort hatten sich seine Beine vom Boden gelöst und er schwebte gut zehn Meter über mir in der Luft. Ich musste meinen Kopf unangenehm stark in den Nacken legen, um ihn noch sehen zu können.
"Hey warte", rief ich, als ich bemerkte, dass er auch noch los geflogen war. Leichte Panik breitete sich in mir aus, doch ich biss die Zähne zusammen und stieß mich vom Boden ab. Ein unheimliches Kribbeln durchfuhr meinen gesamten Bauch, als ich die Erde nicht mehr unter meinen Füßen spürte. Mein Griff um den Stiel des Besens war so fest, dass meine Knöchel weiß hervor traten, während ich immer weiter nach oben stieg. Ängstlich blickte ich mich um und sah, wie alles am Boden immer kleiner wurde.
"Nach vorne gucken!", ermahnte Sebastian mich. Die Luft vibrierte, als er mit einem knappen Manöver an mir vorbei schoss, einen Looping flog und dann neben mir anhielt. Instinktiv lehnte ich mich etwas nach unten, bevor ich mich aufrichtete und kam ebenfalls in der Luft zum Stehen.
"Glaub bloß nicht, dass mich das beeindruckt hat", sagte ich und wusste, dass es mir sehr wohl imponiert hatte.
"Muss es auch gar nicht. Warte ab, bis du mich nächstes Jahr Quidditch spielen siehst", zwinkerte er, lehnte sich nach vorne und flog davon. Mein Griff verstärkte sich und ich tat es ihm gleich. Der Wind wehte durch meine Haare und mein Puls wuchs mit der Geschwindigkeit. Es war ein atemberaubendes Gefühl, so hoch oben in der Luft zu sein. So machtvoll, denn Hogwarts sah fast schon aus wie ein Puppenschloss.
Zunächst hatte ich Probleme mit Sebastian mitzuhalten, aber je länger ich flog, desto besser wurde es. Von Manövern wie Sebastian sie hin und wieder vor mir flog, war ich zwar noch weit entfernt, aber ich war froh darüber überhaupt zu fliegen. Wir flogen über kleine Wälder, Bäche und Dörfer. Immer wieder zeigte er auf Orte und erzählte mir die unterschiedlichsten Dinge aus seinem Leben oder dem ungeheuren Wissen, das er gesammelt hatte. Je weiter wir südlich flogen, desto nervöser wurde er.
"Das ist Feldcroft", sagte er dann hastig und zeigte auf das Örtchen unter sich, "da komm ich her"
"Sieht süß aus", bemerkte ich und musterte die kleinen Hütten um eine Straße herum. Sein Dorf war noch deutlich kleiner als das, aus dem ich kam. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und sah mich dann an: "Hast du Lust zu landen? Dann könnte ich dir Anne vorstellen. Seit ich dich in meinen Briefen erwähnt habe brennt sie darauf dich kennen zu lernen"
Den letzten Teil verschluckte er fast, weil er so schnell gesprochen hatte. Auch ich hätte es fast überhört. Zum Glück hatte ich es nicht, denn die Tatsache, dass er sogar seiner Schwester von mir berichtete, machte mich mehr als glücklich.
"Gerne", sagte ich und wir begaben uns in den Landeanflug.

Im Schatten des Unausgesprochenen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt