Kapitel 9

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Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Sessel gesessen habe; das Amulett zwischen den Fingern und den Blick ins Leere gerichtet. Alleine mit meinen Gedanken und verloren auf dem Weg bei der Suche nach Antworten. Immer wieder stellte ich mir die Frage, ob ich bereit dafür war, nach meinen Eltern zu suchen. Überschattet wurde dies von der Frage, ob ich für das alles bereit war. Bis vor wenigen Tagen hatte mein Leben festgestanden und Magie und meine Eltern waren kein Teil davon. Meine Großmutter brachte mir das bei, was ich können musste, um den Hof ab nächsten oder übernächsten Sommer alleine zu führen. Doch alles hatte sich geändert. Ich war eine Hexe und hatte das erste Mal in meinem Leben eine Spur zu meinen Eltern. Zumindest war ich fest davon überzeugt. Warum sonst hätte Mr. Vanders sagen sollen, dass er Sorge gehabt hat, ich wäre eine Squib geworden. Er musste wissen, dass ich magischer Abstammung bin. Es war unumgänglich, dass ich ihn noch einmal sprechen musste, aber wollte ich das?
Was würde geschehen, wenn ich einfach nur erfahren würde, dass sie tot sind? Ist das Leben in Ungewissheit nicht einfacher?
Meine Finger schlossen sich enger um den Anhänger. Fast so, als hätte ich Angst, dass man ihn mir wieder nehmen könnte. In mir keimte der Gedanke auf, dass die Kette meinen Eltern gehört haben könnte, denn warum sollte meine Großmutter ihn sonst vor mir versteckt haben. Ich ließ meinen Kopf gegen das Polster des Sessel fallen und schloss die Augen. Ruhe war etwas, was man in Hogwarts nur schwer bekam. Aus diesem Grund verharrte ich in der Position und genoss das Gefühl meiner immer stiller werdenden Gedanken.

Plötzlich ertönte ein schrilles, unerträgliches Geräusch. Ich riss meine Augen auf und blickte mich panisch um. Wo kam das her? Ich bemerkte einen Beistelltisch neben mir, der mit Sicherheit vorhin nicht hier gestanden hatte. Auf diesem stand eine kleine Uhr. Instinktiv griff ich danach und das Geräusch erstarb. Ich drehte die Uhr in meiner Hand und schreckte abermals hoch, als ich die Uhrzeit sah: 15:30 Uhr. Das Mittagessen hatte ich verpasst.
"Verdammt", fluchte ich und sprang auf. Vermutlich war ich eingeschlafen. Ich wollte noch unbedingt in die Bibliothek und meine Studien fortführen. Schnell legte ich mir das Amulett um den Hals und steckte die Schachtel zurück in die Tasche. Ein letztes Mal drehte ich mich nach meiner kleinen Oase um, bevor ich durch die schwarze kunstvolle Tür nach draußen trat. Für einen kurzen Moment schlugen mir die Geräusche von widerhallenden Schritten und sprechenden Schülern wie eine Wand entgegen, doch schnell gewöhnte ich mich daran. Trotzdem war ich überfordert, denn ich war so ziellos durch das Schloss gestreift, dass ich nicht wusste, aus welcher Richtung ich gekommen war. Weder die Büste und Bilder auf der linken Seite noch das riesige Porträt mit den Trollen im pinken Ballett Tutus war mir aufgefallen. Seufzend und verzweifelt blickte ich nach rechts und mein Bauchgefühl sagte mir ich sollte dort entlang gehen. Als ich mich an einem oberen Treppenabsatz wiederfand, sah ich schimmernde Sternbilder und ferne Galaxien über mir schweben. Ich war also im Astronomieturm und damit an einem der höchsten Orte in Hogwarts. Zwar kannte ich keinen Weg von hier aus, aber ich wusste, dass ich erstmal runter musste. Die Wendeltreppe zog sich über gefühlt tausend Stockwerke und gerade als mein Magen sich nach einer weiteren Umrundung bemerkbar machte, sah ich den Fuß der Treppe. Mit verschränkten Armen und düsterem Blick stand Professor Black neben der letzten Stufe. Sein Blick erfasste und fixierte mich, dabei blieb seine Miene undurchdringlich.
"Ms. Eltringham in mein Büro", seine Stimme war scharf und kalt wie die Klinge eines Messers. Ich überwand die letzten Stufen und versuchte mir die Angst, die die Aufforderung ausgelöst hatte, nicht anmerken zu lassen. Stumm nickte ich und folgte dem Schulleiter durch die Korridore Hogwarts. Hatte ich den halben Sonntag in einem verbotenen Raum verbracht? Würde er mich tadeln, weil ich nicht fleißig genug war? Während ich hinter ihm herlief, fielen mir immer mehr Gründe ein, warum er mich in sein Büro zitierte. Ich musste damit aufhören. Das führte doch zu nichts. In wenigen Momenten würde ich schon erfahren, was er von mir wollte. Trotzdem quälte es mich. Grundsätzlich hatte ich kein Problem damit, gegen Regeln zu verstoßen, aber ich hasste es dabei, erwischt zu werden. In der Vergangenheit habe ich unzählige Male gegen die teilweise absurden Vorschriften meiner Großmutter verstoßen. Nie war etwas passiert, bis auf das eine Mal, dass sie mich nachts im Dorf erwischt hatte, weil sie selber unterwegs gewesen war. Diese Ohrfeige werde ich nie vergessen. Abgehalten hatte sie mich trotzdem nicht, sie hatte mich nur vorsichtiger werden lassen.
Schließlich kamen wir vor dem Adler zum Stehen, Black flüsterte das Passwort und wir gingen hinauf. Mein Atem stockte, als ich sah, wer bereits in dem Büro war. Sebastian saß nicht auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch, sondern sah sich seelenruhig die Rücken der Bücher an, die in dem Regal auf der Empore hinter dem Schreibtisch standen. Das gleichgültige Gesicht von Black errötete vor Wut und er schien jede Sekunde zu explodieren: "Mr. Sallow! Sie setzen sich sofort wieder hin!"
"Verzeihung Professor", säuselte Sebastian und drehte sich dann zu uns um. Sein Blick blieb für einen Moment auf mir liegen, bevor er sich auf einen der Stühle setzte. Ich tat es ihm gleich. Abwartend sahen wir den Schulleiter an, der sich auf die andere Seite des Schreibtisches gestellt hatte. Mit seiner Hand fasste er sich an das Nasenbein und schien sich damit beruhigen zu wollen. Er nahm einen tiefen Atemzug, aber setzte sich nicht hin. Stattdessen griff er eine Zeitung von seinem Schreibtisch und warf sie uns so hin, dass wir die Schlagzeile lesen konnten:

Hogwartsschüler entkommen knapp dem Tod

Darunter war ein riesiges, sich bewegendes Bild von Sebastian und mir, wie wir gegen den Troll kämpften. Unter anderen Umständen hätte mich das lebendige Bild beeindruckt, doch die Situation ließ keinen Raum dafür.
"Sie beide schulden mir eine Erklärung!", forderte Professor Black uns auf und durchbohrte uns dabei mit seinen Augen. Panisch warf ich einen Blick zu Sebastian, der sich lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und dem Blick des Schulleiters standhielt. Wie machte er das nur?
"Wir hatten die Situation völlig unter Kontrolle", sagte Sebastian ruhig.
"Das sieht der Tagesprophet aber anders!", brüllte Black den Slytherin an und schien dabei den letzten Funken Contenance zu verlieren. Ehe Sebastian wieder etwas sagen konnte, fuhr er fort: "Sie können sich nicht ansatzweise vorstellen, was hier los wäre, wenn einer von ihnen wegen ihres Hochmuts ernsthaft verletzt worden wäre Mr. Sallow!"
"Es ist aber keiner verletzt worden!", auch Sebastian wurde patziger und ich fiel gänzlich vom Glauben ab. Er konnte doch nicht so mit unserem Schulleiter sprechen. Unauffällig trat ich ihm gegen sein Schienbein in der Hoffnung, er würde davon zur Vernunft kommen und freundlicher sein.
"Ich würde Ihnen beiden liebend gerne alle Hauspunkte abziehen, aber das kann ich nicht, weil sie sich genau genommen nur selbst verteidigt haben"
Selbstgefällig grinste Sebastian und warf mir einen beschwichtigenden Blick zu. Vermutlich hatte er gewusst, dass Black uns deswegen nichts anhaben könnte.
"Nächstes Mal rennen sie weg und wenn ich noch einmal von derartigen Himmelfahrtskommandos ihrerseits in der Zeitung lese, lasse ich mir etwas Anderes einfallen", Black hatte seinen Finger mahnend erhoben und wurde mir jedem Wort bedrohlicher. Sebastian lächelte süffisant und sagte nur: „Selbstverständlich Professor".
Dann sah Black nur mich an: "Und wenn ich ihnen einen Rat geben darf Ms. Eltringham: Halten sie sich von Schülern wie Mr. Sallow fern, wenn sie an dieser Schule bleiben wollen und jetzt gehen sie mir beide aus den Augen!"
Sebastian stand auf, griff meinen Arm und zog mich hinter sich her aus dem Büro. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, lachte er. Entgeistert sah ich ihn an: "Findest du das witzig?"
"Schon. Hast du nicht gesehen, wie rot sein Gesicht geworden ist?", grinste er breit. Ich war so wütend auf Sebastian, dass mir gar nicht auffiel, dass er meinen Arm immer noch in der Hand hielt und nur wenige Zentimeter von mir entfernt war. Sein Gesicht wurde ernster, als er bemerkte, wie wütend ich war: "Alles gut?"
"Nein, Sebastian, es nicht alles gut. Diese Schule ist zur Zeit alles, was ich habe", meine Stimme zitterte, als ich das sagte. Seine andere Hand legte sich an meine Wange und strich die Tränen weg, die unbemerkt geflossen waren: "Black ist ein Idiot und ich werde dafür sorgen, dass höchstens ich fliege und nicht du!"
Ich war unfähig etwas zu sagen und gefangen in seinen braunen Augen.
"Es sei denn du willst dich von mir fern halten", sagte er leise und löste sich komplett von mir. Ich hasste das Gefühl, dass er hinterließ, als er zwei Schritte von mir weg trat.
"Nein, wir sollten nur nicht weiter auffallen", flüsterte ich und ein schelmisches Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. Dann griff er meine Hand und zog mich hinter sich die Treppe runter: "Und jetzt beeilung, ich muss ein Duell gewinnen"

Im Schatten des Unausgesprochenen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt