Kapitel 5

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Poppy sollte Recht behalten, denn Zaubertränke gefiel mir. Nicht ganz so gut wie Kräuterkunde, aber die aufregenden Zutaten und das Brauen faszinierten mich. Dazu kam, dass das Klassenzimmer in den Kerkern sich neben der Bibliothek in die Liste meiner Lieblingsorte einreihte. Mit den vielen Kesseln und sonstigen Utensilien, die von der Decke hingen, erinnerte es mich an unsere Hütte. Meine Oma hatte jeden erdenklichen Stauraum genutzt und so hingen auch bei uns unzählige getrocknete Bündel Kräuter von den Holzplanken herab. Es waren nicht nur diese Parallelen, die dafür sorgten, dass ich mich immer mehr wie zu Hause fühlte. Ein Großteil war auf Poppy und ihre Freundinnen zurückzuführen, die mich in ihrem Schlafsaal und unter sich aufgenommen hatten. Sie beantworteten mir jede meiner Fragen und halfen mir dabei, dass ich mich gut zurechtfand. Dabei gaben sie mir das Gefühl, dass sie das alles nicht nur taten, weil ich ihre Zimmernachbarin war, sondern weil sie mich auch wirklich mochten.
Als ich abends neben ihnen in den Betten lag, fühlte ich mich das erste Mal in meinem Leben sicher und gut aufgehoben. Zwar hatte mleine Großmutter auch auf mich Acht gegeben, aber wenn ich das Gemüse nicht von den Feldern holte, tat es keiner. Wenn ich nicht das Essen kochte, aßen wir trockenes Brot. An Zeiten und das Gefühl, wie es war, als es andersherum gewesen sein musste, konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Das waren die Gedanken, die mir abends, wenn die Stille in unseren Schlafsaal eingekehrt war, durch den Kopf gingen. Ich drehte mich auf die Seite und zog mir die mit Daunen gefüllte Decke bis an meine Schultern heran. Die Wärme breitete sich augenblicklich weiter aus und ermüdet von den Eindrücken fiel ich in einen traumlosen Schlaf.

Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, war unser Schlafsaal in gleißendes Sonnenlicht getaucht, das durch die Fenster oberhalb unserer Betten herein fiel. Es war viel heller als an den vergangenen Morgen. Mein Puls beschleunigte sich. Hatte ich verschlafen? Hastig glitt mein Blick durch den Raum und alle Betten bis auf meines waren verlassen und gemacht. Warum hatten sie mich nicht geweckt?
Ich schlug die Decke weg und spürte einen kalten Luftzug an meinen Beinen. Es war eindeutig, ich musste verschlafen haben. Ich wollte keine weitere Zeit verlieren und begann schnell damit meine Schulkleidung anzuziehen. Gerade als ich den Pullover über mein Hemd zog, hörte ich, wie unsere Tür aufging.
"Gut, du bist endlich wach, du Siebenschläferin", es war die lachende Stimme von Portia. Ich fuhr zu ihr herum und mir fiel auf, dass etwas an ihr anders war. Statt der Uniform trug sie ein smaragdgrünes, gerade geschnittenes Kleid mit Corsage. Es betonte ihre Haare und sie sah darin fast schon aus wie eine Prinzessin.
"Ziehen wir heute im Unterricht keine Schuluniform an?", fragte ich ungläubig, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte. Ihr Lachen wurde nur noch lauter und sie setzte sich auf ihr Bett. In der Bewegung streifte sie gerade noch ihre Schuhe ab und legte sich dann hin.
"Niemand würde mich an einem Samstag in den Unterricht bekommen", sie verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf und schaute an die Decke. In meinem Kopf arbeitete es. Sonntag war kein Arbeitstag, aber meistens mussten wir trotzdem kleinere Arbeiten erledigen. Samstag war ein Tag, wie jeder andere auch, oder nicht?
Portia schien meine Unwissenheit zu bemerken und hörte schlagartig auf zu lachen: "Oh, es tut mir leid. Samstag und Sonntag sind mehr oder weniger frei, wenn wir von Schularbeiten verschont bleiben"
Verstehend nickte ich und setzte mich ebenfalls wieder hin. Deswegen hatten sie mich nicht geweckt und das war auch der Grund, warum Portia ihre Schulkleidung nicht anhatte.
"Wir dachten, nach deiner ersten Woche hier brauchst du eine extra Mütze Schlaf", erklärte sie weiter und es war nicht zu übersehen, dass es ihr immer noch leid tat.
"Vermutlich war es genau das Richtige", grinste ich und auch Portia lachte wieder. Dass sie mich ausschlafen ließen, war vermutlich wirklich das Beste gewesen, denn so erholt hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt. Als ich mein Studienbuch auf meinem Nachttisch sah, mischte sich auch Tatendrang unter die Gefühle in meinem Inneren. Zwei volle Tage Zeit, um weiter die Seiten in dem Buch abzuarbeiten. Ich hatte zwar schon abends immer mal wieder einige Seiten durchgearbeitet, aber je schneller ich durch war, desto eher konnte ich wie all die anderen Schüler diese Schule besuchen und war nicht mehr diejenige, die so viel nachholen musste. Dann würde Professor Black sehen, dass ich nach Hogwarts gehörte, denn es war jetzt mein Zuhause und ich wollte alles dafür tun, um hier bleiben zu dürfen. Jetzt wo ich alleine in der Hütte leben würde, graute es mir davor, wieder zurückkehren zu müssen.
"Was hast du an deinem freien Tag vor?", wollte Portia wissen und angelte mit einer Hand eine merkwürdig geformte Schachtel Dragees von ihrem Nachttisch. Sie griff ein rotes heraus und schob es sich in den Mund. War das Erleichterung in ihrem Gesicht gewesen, nachdem sie zugebissen hatte? Wieder eine Sache, die ich nicht verstand, aber ganz sicher bald verstehen würde.
"Ich gehe in die Bibliothek und hole weiter nach", antwortete ich, denn das schien mir die einzige logische Antwort zu sein. Ich schaute in den Spiegel, während ich meine Krawatte und damit den letzten Teil meiner Uniform herrichtete.
"Wirklich? Es gibt so viel spannenderes zu tun", gespielt verdrehte sie die Augen und hielt mir dann die Schachtel hin. Zögerlich streckte ich die Hand nach dieser aus und suchte ebenfalls ein rotes Dragee. Nur um sicher zu gehen, denn Portia hatte das Rote gerade eben offensichtlich geschmeckt.
"Danke", sagte ich, steckte es mir in den Mund und fuhr dann fort, "Ich will so schnell wie mögl-" Ich hustete und kam nicht mehr dazu, weiter zu sprechen. Eine ungeheurer Schmerz breitete sich in meinem Mund aus und verschlug mir die Sprache. Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn und mir wurde schwindelig.
"Oh, das sieht nach Chilli aus", murmelte Portia und setzte sich auf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie etwas in ihrem Nachtschrank suchte, aber ich war so abgelenkt von den Schmerzen, dass ich nicht in der Lage war nachzufragen. Ich fiel zurück auf mein Bett und hoffte darauf, dass es schnell wieder vorbei war.
"Hier iss das", sagte sie besorgt und hielt mir ein Stück Schokolade hin. Wenn meine Gedanken nicht so vernebelt gewesen wären, hätte ich mich vielleicht versichert, dass mit der Schokolade im Gegensatz zu dem Dragee alles in Ordnung war. Stattdessen biss ich zu und mit jeder Sekunde, die sich die Schokolade in meinem Mund verteilte, wurde es besser.
"Was war das?", fragte ich außer Atem und sah Portia an. Sie entspannte sich etwas und hielt mir noch ein Stück hin.
"Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen. Manchmal haben sie dieselbe Farbe, aber das macht es gerade so aufregend", erklärte sie und ich schluckte das zweite Stück herunter.
"Es war sehr scharf", berichtete ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Vermutlich war sie vorhin erleichtert, weil sie zwar eine Rote, aber keine Scharfe erwischt hatte. Portia war aufgestanden und suchte etwas in ihrem Kleiderschrank. Inständig hoffte ich, dass sie nicht auf der Suche nach weiteren magischen Süßigkeiten war, die sie mir anbieten wollte.
"Wir alle tragen am Wochenende unsere eigenen Klamotten und ich hab nicht dran gedacht, dass du noch keine eigenen hast", ihr Kopf lugte hinter der Tür hervor und verschwand sogleich wieder. Mehrere Kleider flogen durch die Luft und landeten aufeinander auf dem Boden.
"Da ist es ja", triumphierend hielt sie ein hellblaues Stoffstück in der Hand und sagte dann in ihrer typischen Wasserfall artigen Weise, "Es passt so gut zu deinen blonden Haaren. Also natürlich nur, wenn du es dir ausleihen magst"
Ich ging auf sie zu und berührte den Stoff mit meiner Hand. Er sah nicht nur aus wie der Himmel an einem Frühlingstag, sondern fühlte sich auch so leicht an wie die wenigen Wolken, die an so einem Tag am Himmel waren. Im Gegensatz zu den anderen Kleidern war es verhältnismäßig einfach gehalten, aber das kam mir gerade recht. Wir hatten noch nie Geld für viele Kleider gehabt und wenn, dann waren sie meist dunkel, damit die Flecken nicht sofort erkennbar waren. Gänzlich undenkbar waren so aufwändig verzierte Kleider, sodass ich mir in einem solchen komisch vorgekommen wäre.
"Du würdest mir eines deiner Kleider geben?", hakte ich ungläubig nach. Sofort nickte sie: "Natürlich. Ich habe auf unserem Anwesen noch viel, viel mehr und verstehe mich nicht falsch, aber mir ist das Kleid zu unauffällig, aber ich glaube zu dir passt es"
Ich zog mich um und das Grinsen auf ihrem Gesicht überstrahlte fast schon die Sonne
"Du siehst umwerfend aus. Fast zu schade für unsere staubige Bibliothek, aber vielleicht läuft dir ein schöner Sechstklässler über den Weg", sprudelte sie und musterte mich von oben bis unten.
"Danke dir vielmals", gab ich unsicher zurück und nahm mir mein Buch vom Nachtschrank. "Elisa ein Hogwarts Haus ist wie eine große Familie: wir teilen und kümmern uns umeinander", ihr Leuchten in den Augen war dabei so ehrlich, dass ich mich keine Sekunde mehr schlecht fühlen konnte, das Kleid und alles weitere anzunehmen. Hufflepuffs waren hilfsbereit und Portia, Poppy und Mary-Ann waren der lebende Beweis dafür.

Die Bibliothek war fast ganz leer, als ich sie wenig später betrat. Vermutlich lag es daran, dass keine Wochenendaufgaben erteilt wurden und draußen die Sonne schien. Ich suchte mir einen Platz in der Mitte und übersprang ein paar Kapitel, bis ich bei den Zaubertränken ankam. Wie ein Schwamm sog ich all die Informationen über die Zutaten und ihre Fundorte auf. Die Kapitel dazwischen würde ich irgendwann nacharbeiten, aber für den Moment ließ ich mich komplett in die Künste der Trankbrauerei fallen. Ich blendete alles um mich herum aus und merkte nicht, wie sich jemand näherte.
"Ganz schön, fleißig seine Zeit am Wochenende hier zu verbringen", riss mich eine Stimme aus meinem Studium. Mein Kopf schoss nach oben und ich blickte direkt in die braunen Augen von Sebastian Sallow, der lässig auf dem Schreibtisch neben mir saß. Seine Beine schwangen achtlos vor und zurück. So wie er dort saß, passte er nicht ganz in die strenge Atmosphäre der Bibliothek. Ohnehin fragte ich mich, warum ein Schüler wie Sebastian an einem Samstag hier war. Noch bevor ich etwas antworten konnte, sprang er auf und stellte sich gerade hin. Keine Sekunde zu früh, denn wenige Augenblicke später kam Mrs. Scribner um die Ecke und beäugte uns kritisch.
"Sind sie fertig, Mr. Sallow?", auch wenn sie flüsterte, waren ihre Worte trotzdem mahnend. "Natürlich Mrs. Scribner", die Stimme von Sebastian hatte sich verändert. Er klang nicht mehr so herausfordernd wie gerade eben, sondern fast schon brav und zurückhaltend.
"Weil das Wetter so gut ist, entlasse ich sie heute schon", sagte sie und lächelte ihn mild an. Ich fragte mich warum sie entschied, wie lange er hier zu bleiben hatte. Sebastian schaute Mrs. Scribner hinterher und als sie außerhalb der Hörweite war, flüsterte er: "Jetzt wo ich frei habe: begleitest du mich nach Hogsmead? Ich hab noch ein Butterbier bei dir gut"

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