Kapitel 4

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Arora

7.09.663

Wie war die Welt wohl, die draußen auf uns wartete? Mit all den Krankheiten und Gefahren, die uns in unserer sterblichen Zeit sofort umbringen würden? Mit all den Unsterblichen aus unserem Internat und all den anderen Internaten, die nicht auserwählt wurden und nun alles tun konnten, was auch immer sie wollten? Die Unsterblichen, die einst mal sterblich waren, genau wie wir? Die einst mal in derselben Lage waren, genau wie wir?

Blöde Vitrine, aus der ich geboren wurde. Blöde Glasvitrinen, aus denen jeder Mensch auf Erden geboren wurde. Wären sie nur zerplatzt, als ich noch nicht bereit war, geboren zu werden. Vielleicht wäre mein Tod dann weniger grausam und langsam, sondern schnell und ohne jegliche Schmerzen. Jeder Tod wäre besser, als der, der sich so nah anfühlte, aber doch so fern. Man könnte jeden Moment sterben, wenn man sterblich war. Und als wäre das nicht schlimm genug, musste man jedes Jahr am eigenen Geburtstag, den man mit allen Menschen teilte, hoffen, nicht zu sterben. Man schmeckte den Tod, fühlte ihn, umarmte ihn. Man wartete auf einen Kuss, und wenn er kam, umfasste er dich und gab dein Leben einem anderen. Wenn er nicht kam, wachte man mit großer Mühe am nächsten Morgen auf und fühlte sich genauso erleichtert, wie erschüttert.

Und ich hatte noch ein Jahr vor mir. War es fair gegenüber denen, die im Schlaf ihren Tod finden mussten? Nein. Das Leben war niemals fair. Die Hoffnung die heute Morgen noch in mir verweilte, fühlte sich wie komplett ausgelöscht. Ich fühlte wieder die Leere in meinem Herzen, den Schmerz in meinen Erinnerungen.

Die Hängematte war kalt und ungemütlich. Eigentlich war es draußen kalt und in meinem Herzen ungemütlich, aber das war unwichtig. Ich gab der Hängematte die Schuld. Meine Atemwege brannten bei diesem kalten Wetter und meine Finger fühlten sich vereist an. Es war dunkel. So stock dunkel, dass ich nichts wiedererkennen konnte.

Der Abend in Zoi war immer so kalt und die Nacht war sogar schlimmer, aber an einigen Tagen brauchte ich diese Kälte, die mir zeigte, wie lebendig ich doch war. Ohne diese Kälte fühlte ich mich manchmal tot, als wäre ich nicht existent. Als wäre ich nur eine schwache Erinnerung, die drohte zu erlöschen.

Mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen hörte ich dem See zu, der sich im Hintergrund bewegte und ich hörte die kleinen Vögelchen und die Enten, die sich in meiner Nähe befanden.

Nach einer kurzen Zeit war die Kälte so unerträglich, dass ich wieder rein musste, bevor ich hier nicht mehr wegkonnte. Auf dem Weg zum Internat betrachtete ich die großen Mauern, die uns umschlossen. Sie waren in der Dunkelheit schwer zu erkennen, aber sie waren da. Ich wüsste nur zu gern, was sich dahinter befand.

Als ich im Aufzug ankam und die Stockwerke nach oben fuhr, tat die Wärme im Fahrstuhl schon weh. Die drastische Veränderung der Temperatur war manchmal sogar schlimmer als die Kälte, die draußen lauerte. Vor meiner Zimmertür angekommen, scannte ich mein Fingerabdruck ab und als ich rein ging, bemerkte ich, dass May nicht im Zimmer war. Unüblich für sie, da morgen schon wieder der erste Schultag war und sie sich normalerweise immer früher schlafen legte, da sie gerne vorbereitet und ausgeschlafen war. Vielleicht war sie ja mit Murphy, dachte ich mir und war wieder verwundert darum, was zwischen den Beiden nun lief. Aber ich hoffte, dass es etwas Gutes war.  Ich machte den Lichtschalter an und wollte mich gerade umziehen, als ich einen Zettel auf meinem Bett entdeckte. Neugierig darüber, was May mir geschrieben hatte, nahm ich es in die Hand and las ihn mir durch.

Avana,

wir haben dich wochenlang gesucht und endlich gefunden.

Meine Liebe, finde den Weg zurück zu uns. Vertraue nicht den Obersten, vertraue nicht deinen vermeintlichen Freunden. Sie lügen dich alle an.

Treffe mich in der Zone und wir werden dir alles erklären.

Deine Gerda

Wer war Avana? Ich glaubte nicht, dass ich eine Avana kannte. Die Nachricht war auf jeden Fall nicht für mich gedacht, aber was machte sie hier auf meinem Bett? Wer, wenn nicht May, hätte es hier hintun können? Nur May, die Obersten und ich hatten Zugang zu unserem Zimmer und die Obersten durften auch nur bei Notfällen rein, oder wenn einer von den Zimmergenossen auserwählt wurde. Aber da hier kein Notfall stattfand, niemand auserwählt wurde und May auch keine Gerda oder Avana kannte, konnte es keiner von uns dreien gewesen sein. Für einen Moment wollte ich aus Angst die Nachricht mitnehmen und sie dem Obersten Ferguson zeigen, aber hier stand, dass ... Avana den Obersten nicht vertrauen sollte. Und auch wenn ich nicht damit gemeint war, fühlte ich mich auf eine unbekannte Weise angesprochen. Wenn Avana den Obersten nicht vertrauen sollte, warum sollte ich es tun? Oder stand es da bewusst, um mich von den Obersten fern zu halten?

Ich wusste nicht weiter. Was ich aber auf jeden Fall wusste war, dass ich schlafen musste. Die Angst, dass die Person wiederkommen könnte, war da, aber ich drängte sie außen vor. Mir würde nichts passieren. Im Internat passierten keine Morde und diese Nacht würden sie nicht mit mir starten. Ich steckte die Nachricht in die Schublade meines Nachttisches und bereitete mich zum Schlafen vor. Mit den Gedanken an May, diesem Brief, und komischerweise dem Professor, dessen Name ich schon vergessen hatte, schlief ich diese Nacht ein.

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt