Kapitel 29

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Arora

25.09.668

Sonntag


»Du möchtest nicht, dass ich mit euch komme?« Ihre Stimme war leise, fast unerträglich zu hören, denn ich wusste, dass ich sie enttäuscht hatte. Sie dachte, ich wollte sie nicht dahaben, wollte sie hier zurücklassen. »Ich möchte dir helfen, Arora. So wie in den Büchern. Du wirst mich irgendwann brauchen, und dann werde ich nicht da sein um mein Leben opfern zu können. Die beste Freundin opfert sich immer damit die Hauptprotagonistin überlebt und die Welt retten kann.«

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen hielt ich ihre Hand. »Das passiert ja auch gerade. Ich bin die beste Freundin, die sich für dich opfert, damit du es nicht tun musst.«

Fast rollte sie mit den Augen. »Nein«, beharrte sie.

»Doch«, spielte ich ihr Spiel mit.

»Du gehst nicht ohne mich. Ich möchte mitkommen.«

»Und Murphy lässt du einfach zurück? Die ganzen Babys auch? May, bist du dir sicher?« Sag einfach nein. Bleib hier. Ändere deine Meinung.

Und tatsächlich zögerte sie. »Ich...«, begann sie, fand aber keine Worte mehr.

»Ich möchte dich auch dahaben. Wirklich. Aber kann ich wirklich so egoistisch sein, dass ich dir dein Leben hier wegnehme, nur weil ich dich an meiner Seite wissen will? Ich weiß doch, dass du das nur für mich tust.«

»Und was ist so schlimm daran?« Sie zog ihre Hände zurück, nun sichtlich verärgert. »Ich möchte für dich da sein. Du bist meine beste Freundin. Wie soll ich das hier ohne dich machen?«

»Du wirst es einfach tun müssen. Du hast Murphy an deiner Seite, der dich echt gernhat, May.« Ich wusste, dass sie es schon akzeptiert hatte. Sie ließ nun ihren Frust aus, realisierte vielleicht auch, dass wir uns bald nicht mehr wiedersehen würden, aber sie hatte es verstanden. Sie stand auf, zu energisch, um noch sitzen bleiben zu können. Lief auf und ab in unserem Zimmer, auch wenn sie hier nicht so viel Platz hatte.

»Du bist meine beste Freundin«, wiederholte sie.

»Ich weiß.«

»Du hast schon mal deine beste Freundin verloren. Wenn ich nicht mitkomme, dann wirst du ein weiteres Mal eine beste Freundin verlieren. Wie soll ich das zulassen?« Und da verstand ich nun, was genau ihre Motivation war, um mitzukommen. Ich wusste ja, dass sie es für mich tat, aber nicht, weil sie nicht wollte, dass ich eine weitere beste Freundin verlor.

Auch ich stand nun auf, sie blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Odette wurde auserwählt. Ihre Seele wurde ihr entnommen, ihr Körper wurde dadurch nutzlos und wurde im gläsernen Sag vergraben.« Standhaft blickte ich ihr weiter in die Augen, auch wenn es wehtat. »Du wirst hier sein. In Sicherheit. Und bevor die nächste Auserwählung stattfindet werde ich dafür sorgen, dass die Obersten aufgehalten werden, sodass du und ich« Ich nahm ihre Hand. »gemeinsam die Außenwelt als Unsterbliche betreten können. Dafür werde ich zurückkommen.«

Sie lachte atemlos, ohne jeglichen Humor in ihrer Stimme. »Wenn du zurückkommst werden sie dich bestimmt töten.«

»Nicht, wenn ich sie bis dahin besiegt habe. Die Rebellion wird mir helfen. Sie sagen, ich trage irgendeinen Schlüssel in mir, May. Ich werde das schaffen, aber nicht, wenn du mitkommst. Dann werde ich mir nur Vorwürfe machen, weil ich schuld daran bin, dass du nicht das Leben lebst, was du dir eigentlich wünschst.«

»Und was ist mit dir?« Ein leises Hauchen, und eine Frage, dessen Antwort sie vielleicht nicht nachvollziehen könnte.

»Ich habe nichts, außer dich, was mich hier hält.« Ich seufzte. »Das Leben hier hatte mir noch nie gereicht. Ich konnte es nicht verstehen und ich hatte so viele Fragen, die mir keiner beantworten wollte. Und dann bekomme ich diese Nachrichten... und Professor Abel beantwortet meine Fragen und ich sehe einen Sinn in diesem Leben. Etwas, was ich bewirken kann, wo ich nicht einfach die Regeln irgendwelcher Unsterblichen befolgen muss, Tag für Tag dieselbe Angst verspüren muss. Etwas, womit ich Gutes bewirken kann.« Ich hätte länger darüber reden können, ausführlicher auf alles eingehen können, aber ich wusste, es ging gerade nicht um mich. Es ging um May und darum, dass sie nun mal nicht so fühlte wie ich. »Und ich weiß, May, dass du dieses Leben hier magst. Klar verspürst du die Angst bei den Auserwählungen, aber alles andere macht das wieder gut. Du magst es hier. Es ist dein letztes Jahr. Ich werde das auch ohne dich schaffen müssen.«

Sie schwieg, drückte meine Hand fester. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie blinzelte sie weg. »Ich möchte dich wiedersehen, okay?«, verlangte sie mit harter Stimme. Erleichterung durchströmte mich und ich umarmte sie. »Aber nicht, wenn es dich tötet.«

»Okay«, sagte ich und ich hoffte, dass es stimmte. Ich hoffte, dass ich zurückkommen konnte, um May wieder zu sehen. Ich hoffte, dass ich gemeinsam mit der Rebellion gegen die Obersten antreten konnte. Ich hoffte, dass wir alle überlebten und die Wahrheit uns alle befreite.

Wir sagten nichts mehr, hatten uns wieder hingesetzt, nebeneinander, die letzte Zeit miteinander genießend, die wir noch haben würden. Sie erzählte mir von Murphy, von den Babys und von ihren Wünschen, während ich endlich zugab, dass ich mich neben dem Professor wohl fühlte und seine Anwesenheit genoss.

Irgendwann sagte sie: »Ich kann nicht glauben, dass du die Außenwelt sehen wirst« und mein Herz machte einen großen Sprung. Das konnte ich auch nicht glauben, aber anscheinend war es so – ich würde die Außenwelt sehen. Und nicht nur sehen, sie sondern auch entdecken.

Ein surrealer Gedanke.

Wir lachten gemeinsam, weinten ab und zu auch, umarmten uns, bis wir in der Nacht nebeneinander einschliefen, unsere Herzen gefüllt mit Sorge, Neugier, Liebe und Verlust.


Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt