Arora
5.10.668
Mittwoch
»Woran erkenne ich, in welche Richtung wir gehen müssen?«, fragte ich den Professor, wissend, dass er mir die Frage wahrscheinlich nicht beantworten konnte. Wir liefen nun seit zehn Minuten weiter in den Wald rein und ich fragte mich, wie ich uns zu der Zone führen sollte. Wie sollte es möglich sein, dass ich diese Zone entdeckte, ohne zu wissen, wo sie sich befand? Ohne auch nur einmal Internat Zoi verlassen zu haben?»Du vertraust deinem Gefühl«, sagte Abel, während er voran lief und sich durch die Bäume drängte.
»Ich habe aber kein Gefühl darüber«, murrte ich unzufrieden und drückte einige Äste weg, die sonst mein Gesicht gestreift hätten.
»Sie werden kommen. Sei geduldig. Bis dahin werden wir einen Weg aus dem Wald suchen.«
Also liefen wir weiter.
Auch wenn es hier kalt und teilweise dunkel war, mit nur wenigen Sonnenstrahlen, so wärmte mich das Laufen ziemlich und meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Tagsüber war das Wetter also kein Problem und ich musste mir nur Gedanken um die Nacht machen, denn wenn ich so still lag, und es sowieso eisig wurde, da wärmten mich die vielen Lagen meiner Klamotten auch nicht mehr. Ich musste also einen Weg finden, die Nächte außerhalb des Internats zu überleben.
Meine Mundwinkel zuckten nach oben.
Der Gedanke, dass ich außerhalb des Internats war, war unvorstellbar, und doch war ich hier, inmitten eines Waldes, und ich war bemüht drum, mein Gesicht von den ganzen Ästen zu retten und einen Weg ins Freie zu finden. Wer hätte das gedacht?
Dass das erste was ich sah ein Wald war, wäre nicht meine erste Wahl gewesen – so ungemütlich, kalt und dunkel wie es hier war, aber es war dennoch die Außenwelt. Es war dennoch etwas Neues, was ich entdecken konnte. Das Gefühl der Freiheit, die auf meiner Zunge lag und die ich langsam und halbwegs genießerisch auskosten durfte.
Die ganzen Düfte waren unbekannt, so unerwartet süßlich und dennoch herb, aber es roch so frisch. Als ich an die Außenwelt gedacht hatte, hatte ich mir den Geruch nie ausgemalt. Ich hatte keine Gedanken über die Gerüche verschwendet und deshalb war es umso überwältigender für mich, die Außenwelt riechen zu dürfen und festzustellen, wie fremdartig sie doch roch.
»Hey!«, rief ich plötzlich und brachte Abel zum Stehen.
Mein Blick war an einen bestimmten Baum gerichtet, und während Abel »Was ist los?« murrte, trat ich einen Schritt näher dran und lachte auf.
»Siehst du die Ameisen?« Mein Grinsen verstärkte sich und Abel gesellte sich nun zu mir, die Ameisen vor uns betrachtend, die in einer Schlange den Baum hinaufliefen.
Ausatmend betrachtete ich die winzigen Wesen, die ich noch nie zuvor mit meinen eigenen Augen gesehen hatte. »May hatte mal Ameisen gesehen«, flüsterte ich. »Draußen. An einer der Schaukelmatten.« Ameisen waren eine Seltenheit im Internat, denn die Obersten ließen sie immer wieder entfernen oder töten, da sie als lästig empfunden wurden. Wo eine Ameise war, waren hundert andere, und ich fand ihren Zusammenhalt faszinierend, doch alle anderen sahen es nicht so.
Auch jetzt schien die Schlange an Ameisen unendlich zu sein. Allesamt machten sie sich auf den Weg nach oben und ich würde ihnen nur allzu gerne folgen können.
»Wie interessant.«
Der widersprüchliche Ton des Professors ließ mich kurz stutzen, also funkelte ich ihn böse an und er schenkte mir ein attraktives Lächeln, was ich gekonnt ignorierte – schließlich war ich immer noch wütend auf ihn.
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Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der Ewigen
FantasyIn einer von der Natur bestimmten Welt existieren Internate auf der ganzen Erde, in denen Menschen in gläsernen Vitrinen geboren werden. Ihre Bestimmung ist düster: Sobald sie das siebte Lebensjahr erreichen, besteht für sie die Chance, auserwählt z...