Kapitel 6

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Arora

13.09.663

»Wo warst du?« Ich stolperte schon fast in die Arme von May, konnte mich selbst nur rechtzeitig stoppen. Außer Atem hielt ich ihre Hand fest, die sie mir automatisch reichte.

»Ich hab' verschlafen!«

»Du hast verschlafen«, bestätigte sie. »Das passiert dir doch sonst gar nicht. Bist du spät schlafen gegangen?«

»Nein«, keuchte ich, versuchte meinen Atem zu regulieren. Der Aufzug wollte einfach nicht kommen und ich musste sechs Stockwerke hochrennen. Verdammte Treppen! »Ich habe alles verpasst!«, seufzte ich und verzog enttäuscht meine Miene. Die ersten zwei Stunden in der Schule oder der Uni nach der Auserwählung waren wichtig. Die durfte man nicht verpassen und wenn man es doch tat, musste man eine Woche lang, jeden Tag, ins Büro des Lehrers, dessen Unterricht man verpasst hatte und man musste an den einzelnen Tagen irgendwelche Aufsätze schreiben. Es war richtig öde. Eine Bestrafung für Schüler und Lehrer, für Student und Professor, weshalb beide Partien strengstens drauf achteten, pünktlich zu erscheinen. Vor Allem die Lehrer und die Professoren, die unschuldiger Weise ihrer Zeit geraubt wurden.

»Der neue Professor war bei uns in den ersten beiden Stunden«, sagte May. »Du musst heute nachmittags zu ihm ins Büro.«

»Oh Gott«, stöhnte ich auf. »Er ist bestimmt richtig darauf fixiert, die Regeln zu befolgen.« Crimson hätte ich überreden können, mich keine Aufsätze schreiben zu lassen, aber den neuen Professor konnte ich auf gar keinen Fall überreden. Er war schließlich neu hier und würde wahrscheinlich alle Regeln befolgen wollen.

»Das kann sein. Er war echt sehr ... ernst.«

Ich seufzte und wir setzten uns endlich hin. Die Kantine war voll mit Studenten, die ihre restlichen 30 Minuten bis zur nächsten Belehrung genossen.

»Warum warst du eigentlich nicht im Zimmer?«, fiel mir ein, als ich daran dachte, dass ihr Bett unberührt war und sie mich gar nicht geweckt hatte. Normalerweise würde sie mich wecken, wenn ich meinen Wecker nicht hörte. Sie wurde rot und strich sich verlegen die rotblonden Haare hinter das Ohr. Ich verstand. Murphy. Immer noch ein seltsamer Gedanke.

Nachmittags stand ich vor dem Büro des neuen Professors und klopfte an. Als ich nichts hörte und ungeduldig erneut klopfen wollte, öffnete sich die Tür und ich senkte schnell meinen Arm.

»Arora, richtig?« Er lächelte mich an. Seine rabenschwarzen Augen glänzten seltsam und sein Blick wirkte freundlich, fast schon erfreut mich zu sehen. Ich nickte und er deutete darauf, dass ich reinkommen sollte. Mit vorsichtigen Schritten begab ich mich in sein Büro und er schloss die Tür hinter mir, war mir gefährlich nahe. Ich machte einen Schritt zur Seite, versuchte, seinen Duft nicht einzuatmen. »Setzen Sie sich bitte.«

Mit einem Blick in sein Büro erkannte ich die vielen Pflanzen, die er hier aufgestellt hatte. Es war ein wenig ungewohnt, so viele Pflanzen in einem recht kleinen Büro zu sehen, aber es hatte etwas Beruhigendes sowie Ablenkendes. Wie als wolle er seine Besucher mit den vielen Pflanzen beirren. Als gäbe es nichts interessanteres in seinem Büro als die vielen, grünen, schönen Pflanzen. Ich setzte mich auf den Stuhl vor seinem dunkel braunen Schreibtisch und bemerkte sofort, wie ungemütlich es war. Er hätte wenigstens ein Sitzkissen drauf tun können.

»Nun, ich bin Professor Abel.« Er seufzte auf, setzte sich auf seinen Stuhl vor mir und blickte mich erneut leicht lächelnd an. Professor Abel. Für mich wirkte er keineswegs ernst, so wie May berichtet hatte. Er wirkte ziemlich nett. Aber auch anders als gestern, als er vor dem ganzen Internat vorgesprochen und sich vorgestellt hatte. Da hatte ich denselben Eindruck wie May erlangen können, nur das heute davon jede Spur fehlte. »Sie sind die Einzige, die heute Morgen gefehlt hat. Alle anderen waren anwesend.«

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt