Kapitel 22

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Arora

19.09.668

Sonntag


Im Aufzug begegneten wir uns wieder. Er kam von seinem Apartment und ich kam von meinem Zimmer. Ich trat ein, schenkte ihm ein Lächeln und er nickte mir zu.

Ich wusste nicht, was für ein Lächeln ich ihm geschenkt hatte. War es ein unsicheres? Ein trauriges? Ein entschlossenes?

War es sanft? Müde? Was sah er in diesem Lächeln? Eine Frau, die die Obersten stoppen konnte?

Eine Frau, die einen Schlüssel in sich trug, dass der Rebellion helfen konnte?

Oder sah er nur eine Frau, die lächelte? Nichts weiter als das?

Im Stockwerk seines Büros angekommen, traten wir aus dem Aufzug raus und liefen auf den kleinen Raum zu, in dem wir ganz alleine verschwinden würden. Wo niemand unserer Gespräche lauschen konnte. Meine Schritte verlangsamten sich, damit er vor mir laufen und seine Tür mit einem Fingerscan öffnen konnte.

Wieder setzte ich mich nicht auf die Couch. Er hingegen schon. Das dunkelbraune Leder sackte unter seinem Gewicht und neben ihm war noch Platz für mich. Aber ich wollte mich nicht benebeln lassen, wollte mit klaren Gedanken meine Entscheidung offenbaren.

Er blickte mich an. Braune, dunkelbraune, fast schwarze, Augen blickten mich an. Baten mich um eine Antwort, nein, nicht um irgendeine Antwort, sondern um die Antwort, die er wirklich hören wollte.

Und ich würde es ihm geben.

Nicht, weil ich mir der Gefahr nicht bewusst war.

Nicht, weil ich Lebensmüdigkeit verspürte.

Nicht, weil ich mein Leben nicht mochte und einfach abhauen wollte. Nein.

Es war Neugier. Wille. Ungeduld.

Ich musste zugeben, dass ein Teil von mir egoistisch war. Ich wollte die Natur sehen, die sich in der Außenwelt verbarg. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, ob die Außenwelt lebendig oder tot war. Ob es dort wirklich Unsterbliche gab. Ob die Rebellion auf mich wartete. Ob die Obersten uns wirklich anschwindelten. Erfahren, ob in mir durchaus ein Schlüssel lag, der helfen konnte.

Ich war bereit, mein Zuhause zu verlassen, mein Leben zu riskieren, um die Menschen zu retten, die mir was bedeuteten. Selbst die Menschen, die mir nichts bedeuteten. Selbst die kreischenden Babys, die ich noch immer nicht ausstehen konnte. Das machte mich aber nicht selbstlos, wie Professor Abel behauptet hatte. Es ging immer noch nur um mich.

Ich könnte doch sonst nicht mit mir leben. Ich könnte das Einsperren hunderter Menschen doch nicht einfach so akzeptieren und hinnehmen.

Nicht, nachdem ich die ganzen Videos von der Rebellion gesehen, von denen ich sogar geträumt hatte.

Nicht, nachdem ich eine Möglichkeit bekam, um die Aufopferung unserer Seelen zu verhindern.

Nicht, nachdem ich dafür sorgen konnte, dass die Unsterblichen freigelassen wurden.

Denn vielleicht hatte Gerda recht. Vielleicht waren die Obersten so korrupt, dass sie alles vortäuschten. Sie lassen die Unsterblichen nicht frei. Was, wenn ich nach einem Jahr die Auserwählung überlebte, nur um danach von den Obersten eingesperrt zu werden? Was würde ich dann denken und fühlen?

Oh, hätte ich bloß auf Gerda gehört.

Wäre ich bloß mit Professor Abel verschwunden.

Wie sollte ich so ein Ende akzeptieren?

Also stimmte ich zu. Ich sagte: »Ich werde mit Ihnen die Rebellion suchen« und sah das Aufblitzen seiner Augen, sah seinen zufriedenen Blick.

Dabei wusste ich gar nicht, ob die Außenwelt sicher für eine Sterbliche wie mich war.

Wir hatten nichts zu verlieren.

Außer uns selbst.

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt