Arora
7.10.668
Freitag
Die Welt war bunter als gedacht.
Meine Vorstellungen waren trüb, geblendet von der einfachen Natur innerhalb der Mauern. Hätte ich gewusst, dass die Sonne hier stärker schien, dass die Wiese hier höher wuchs, dass die Blumen größer und bunter und farbreicher waren – dann hätte ich die Außenwelt viel eher aufgesucht.
Die Fläche, die sich vor mir ergab, war riesig. Es war hell, viel zu hell, und meine Augen hatten sich in den letzten Tagen zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt, doch ich konnte genug erkennen, um zu staunen.
Einige Bäume standen zwar immer noch in kleinen Gruppierungen rum, doch sie waren deutlich weniger und man konnte nun wieder die Sonne auf der Haut spüren. Dennoch konnte ich sehen, dass die großen Bäume in der Ferne wieder dichter wurden und der Wald wieder seine Fänge ergriffen hatte. Ein kleiner Teil von mir war enttäuscht, doch ich wusste, dass dieser Wald nicht so unendlich war wie der Wald hinter mir zu sein schien. Am Ende des Tages würde ich wieder vor einer grünen Fläche stehen, und diesmal hätte ich den Wald vollkommen hinter mir gelassen.
Das Mädchen im Wasser hatte Recht gehabt – sie hatte gesagt, dass es einen Bach geben würde, und da war er. Vor mir. Der Beweis, dass sie kein Traum war, aber eine echte Person, die in meiner verlorenen Vergangenheit einen so großen Wert für mich hatte, dass sie mir nun in meinen Träumen erschien.
Es war zwar immer noch kühl, trotz der warmen Sonne, doch die dicken Lagen meiner Kleidung ließen mich nun schwitzen, und ich war mehr als nur bereit, sie loszuwerden und mich mit dem Wasser des großen Baches sauber zu machen, der hier in der Mitte der Fläche seinen Weg eingeschlagen hatte. Das Lied des Wassers war voller Leben, es floss und floss und floss, betäubte meine Ohren, blendete meine Augen, erwärmte mein Herz. Ein Anblick, den ich zum ersten Mal sah, auch wenn es nicht wirklich das erste Mal war, sondern eine vergessene Erinnerung, die ich zurückholen musste und wollte.
Abel machte einen Schritt nach vorne, seine Augen weit aufgerissen, seine Lippen leicht gespalten, als wäre auch er überwältigt von der Schönheit dieses Ortes. In dem Moment fiel mir ein, dass auch er zum ersten Mal hier war – er hatte keine Möglichkeit gehabt, die Außenwelt so zu erkunden, wie wir es heute taten. Zwei Tage reichten nicht aus, um so weit von den Internaten zu kommen und die Wälder zu verlassen, also war das ein Erlebnis für uns beide und dieser Gedanke bescherte mir ein Lächeln.
Er war nicht anders als ich.
Wir waren gezwungen gewesen, den Obersten zu gehorchen, auch wenn sie uns einsperrten, belogen, und manipulierten. Ein System, dem man nicht so leicht entkommen konnte. Er hatte es geahnt – wie korrupt unsere Herrscher waren und er hatte sich in ihr System eingeschleust, seine Freiheit riskiert, um mehr zu erfahren. Er hatte sein Schicksal selbst gewählt, etwas, was nicht vielen Menschen heutzutage geschenkt war.
Wir waren verbunden. Sein Handeln hatte mein Schicksal geformt. So war er in mein Leben gekommen und aus irgendeinem Grund wusste die Rebellion – Gerda – von ihm und sie wollten, dass er mir half, zu ihnen zu finden.
Wahrscheinlich kannten sie mich von damals.
Sie wussten, wer ich gewesen war.
Abel drehte seinen Kopf zu mir, ein Lächeln zierte seine Lippen. »Komm, wir bleiben ein Tag hier. Baden, waschen unsere Klamotten, genießen die Sonne, bevor wir wieder für eine halbe Ewigkeit in den Wald verschwinden. Was meinst du?«
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Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der Ewigen
FantasyIn einer von der Natur bestimmten Welt existieren Internate auf der ganzen Erde, in denen Menschen in gläsernen Vitrinen geboren werden. Ihre Bestimmung ist düster: Sobald sie das siebte Lebensjahr erreichen, besteht für sie die Chance, auserwählt z...