Kapitel 26

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Nach einer langen Reise durch den Wald erblickten wir endlich die Sonne wieder. Die Bäume wurden weniger, uns begegneten weniger Tiere, der Gesang der Vögelchen verstummte irgendwann vollkommen. Die Helligkeit dröhnte gegen meine Sicht, ich konnte nicht anders, als meine Augen zusammenzukneifen, hoffend, dass ich mich irgendwann an diese Helligkeit gewöhnen konnte. Die grüne Fläche vor mir war leer und die Windbrise war stärker und kälter.

Mein Leben habe ich zwischen engen Bäumen verbracht, ohne einen Hauch Wind zu spüren, ohne die wirkliche Helligkeit und Wärme der Sonne wahrzunehmen, und ich wusste schon immer, dass ich etwas verpasste, aber ich hätte nie erahnen können, dass das so anders sein könnte. So schön. So kalt und doch so warm. Ich erhob meine Hände und versuchte meine Augen vor den Sonnenstrahlen zu schützen, doch leider half es nur minimal. Meine Füße drohten aufzugeben, die Last meiner Selbst und der letzten Wochen war zu viel, doch Isadora's Hand, die an meinem Rücken ruhte und mich immer weiterschob, half mir, aufrecht zu bleiben und nicht zu stoppen.

»Ich sehe die Mauer«, murrte Silas.

Die Mauer?

»Wir sind fast da«, teilte nun Atticus mit.

Und nach wenigen Sekunden sah ich die Mauer, von der sie sprachen. Das glaubte ich zumindest.

Es war riesengroß und hoch und dunkel. Ziegelsteine, die aufeinandergestapelt und befestigt wurden, bedeckt mit Moos und Dreck und alles Mögliche. Ich blickte zu Isadora, doch sie lief weiter, den Blick stur nach vorne gesetzt.

Die Mauer wurde immer größer und größer und irgendwann war sie direkt vor uns. Meine Kinnlade klappte runter und ich konnte mein Staunen nicht verhindern. Die Mauern waren wirklich riesig, verbargen außenstehenden die Sicht dahinter, wäre da nicht die Mitte, die freistand. Die Tore waren mit der Mauer verbunden und sie standen weit offen. Jeder konnte reinspazieren, jeder konnte die Außenwelt betreten. Ich versuchte einen Blick innerhalb der Mauern zu erhaschen, doch Atticus stellte sich vor mich und machte sich breit.

»Hey!», wollte ich rufen, doch ich traute mich nicht und blieb stumm. Ich zuckte zusammen, als laute Geräusche ertönten.

Silas stellte sich neben Atticus und auch er zog seine Schultern nach hinten und beide erhoben plötzlich ihre Hand, beide Hände stark zitternd. Die lauten Geräusche verstummten nach einigen Sekunden und ich blickte panisch zu Isadora, die ein sanftes Lächeln auf den Lippen trug, mich nicht beachtend.

Was passierte hier bloß?

»Owe! Owe!«, brüllten beide Männer und ich verstand nicht, was sie sagten. »Winthra Isa ist zurückgekehrt. Empfangt sie mit einem Lächeln und seid leise. Kylar zynthex, Thonvylkar.« Sie sprachen eine andere Sprache, doch welche es war, konnte ich nicht wiedererkennen. Isadora atmete laut ein und aus, ehe sie mir endlich einen Blick schenkte. »Kniet euch nieder, Dorfbewohner. Das haben sie gesagt. Nun guck' stets auf den Boden und erst wenn ich dir sage, dass du nach vorne blicken darfst, wirst du es tun.« Der Ton in ihrer Stimme verriet mir, dass sie nichts anderes duldete, als dass ich tat, was sie verlangte. Also nickte ich und richtete meinen Blick auf den Boden. »Folge mir«, flüsterte sie noch, ehe die beiden Männer sich nach vorne bewegten und Isadora ihnen folgte.

Die Helligkeit der Sonne war erträglicher wenn ich meine Augen auf den Boden richtete. Ich erkannte Umrisse mehrerer Menschen, verspürte das Bedürfnis, sie anzusehen und ihr Aussehen zu bewundern, doch ich hielt mich an Isadora's Befehl. Noch nie war ich zwischen so vielen Menschen gewesen und das starke und laute Klopfen in meiner Brust tat langsam weh. Die lauten Geräusche ertönten erneut und ich kniff die Augen zusammen.

»Willkommen zurück, Winthra Isa«, hörte ich einen Mann neben uns weinen, als wäre Isadora jahrelang weg gewesen.

»Winthra! Winthra!«, schrie eine Frau aus der Ferne und übertönte die lauten Geräusche.

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt