Arora
15.09.663
Alle heutigen Belehrungen waren vorbei und ich hatte noch eine Stunde Zeit, bis ich zum Professor musste. Ich hatte das Buch der Erneuerung gefunden, hatte es im Schrank gelassen und mich in eine entferntere Ecke hingesetzt, mit einem anderen Buch – wartend auf Avana, die hoffentlich noch nicht hier gewesen war.
Ich musste sie sehen. Ich musste wissen, wer es war. Zwar hatte ich die Vermutung, dass sie überhaupt nichts von den Nachrichten wusste, die ich an ihrer Stelle bekam, aber dennoch musste ich es versuchen.
Nach einer halben Stunde wurde ich ungeduldig.
Niemand war hier. Die Bibliothek war groß, ganze drei Stockwerke, mit der freien Mitte, in der ein Baum wuchs. Sie war wunderschön und normalerweise zugepackt mit Schülern und Studenten, die für die Belehrungen recherchierten. Da wir aber am Anfang der Belehrungszeiten waren, gab es niemanden hier, der lernte. Niemanden, der seine Zeit hier verbrachte. Genauso wenig wie ich es tat, was eigentlich ziemlich schade war.
Ich seufzte, lehnte mein Kopf gegen den kühlen Tisch. Nach weiteren fünfzehn Minuten wusste ich: Sie würde nicht kommen.
Dann musste ich es versuchen.
Ich war zwar keine Avana, aber Arora klang ziemlich ähnlich, also müsste es wohl reichen. Ich marschierte Richtung Buchregal, tat das Buch in meinen Händen wieder rein und zog ein wenig weiter das Buch der Erneuerung raus. Anschließend setzte ich mich auf den Platz in der Nähe hin.
Ich hatte nicht mehr lange und konnte mir nur weniger als 10 Minuten Zeit nehmen, aber das musste sein. Ich musste mir diesmal erlauben – falls jemand überhaupt kommen sollte – zu spät zum Nachsitzen aufzutauchen.
Ich wartete fünf Minuten. Niemand tauchte auf. Langsam glaubte ich, dass die Nachrichten wirklich völliger Müll waren. Meine Ungeduld gewann und ich entschied, meine Zeit nicht länger zu verschwenden. Und aus Trotz nahm ich das Buch mit.
Avana konnte mich mal.
»Guten Tag, Arora.«
»Guten Tag, Professor.«
So wie üblich setzte ich mich auf den ungemütlichen Stuhl, der langsam Grund dafür war, warum mein Po ständig schmerzte.
»Sie brauchen ehrlich ein Sitzkissen...«, murmelte ich, ohne darüber nachzudenken. Sofort realisierte ich meinen Fehler und schloss langsam die Augen. Oh Gott. Meine Müdigkeit machte sich bemerkbar.
»Sie finden meinen Stuhl ungemütlich?«, fragte er. Ich nickte vorsichtig. Er lachte leise, deutete auf seine Couch, die unter seinem Fenster platziert war und deutlich gemütlicher wirkte, als dieser blöde Drehstuhl.
»Nur zu. Ich will nicht der Schuldige Ihrer Schmerzen sein. Meine Couch ist gemütlich.«
Ich zögerte und er bemerkte es. Dann stand er auf und setzte sich selbst dahin. Langsam machte ich ihm nach, verfluchte mich für meine Dummheit. Wenn er auch auf der Couch sitzen blieb, wären wir uns viel zu nahe. Dann müsste ich mir zwei Stunden lang seinen Duft antun müssen und ich glaubte, nicht genug davon zu kriegen. Was würde es nur mit mir anstellen, wenn ich es die ganze Zeit einatmen müsste?
Und da war es – direkt als ich mich hinsetzte, auch wenn ich mich in die Ecke setzte, so weit weg von ihm wie es mir möglich war. Leicht süß und zitronig. Und etwas anderes, was das Ganze einfach um hundert Mal besser machte – etwas, was ich einfach nicht deuten konnte.
»Haben Sie's zu Ende gelesen?«
»Wie bitte, was?«, hauchte ich. Überforderung machte sich in mir breit. Er war dennoch zu nahe. Als ich ihn anblickte, lächelte er leicht. Hatte er etwa Spaß?
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Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der Ewigen
FantasyIn einer von der Natur bestimmten Welt existieren Internate auf der ganzen Erde, in denen Menschen in gläsernen Vitrinen geboren werden. Ihre Bestimmung ist düster: Sobald sie das siebte Lebensjahr erreichen, besteht für sie die Chance, auserwählt z...