Kapitel 12

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Avana

06.06.652

Einige Minuten vergingen und ich kletterte den Baum wieder runter. Ich lief zurück zu der Stelle, wo ich mein Lagerfeuer aufschlagen wollte und suchte zwischen den ganzen Blättern und Ästen nach meinem Seil, welches hier irgendwo sein musste.

Als ich es fand, schlich sich ein erleichtertes Lächeln auf meine Lippen. Mein Lächeln hielt nicht lange, denn ich hörte ein Klicken. Ein Geräusch, das ich vorher auch schon gehört hatte. Ich erstarrte, als ich es realisierte.

Es war die Waffe der Frau. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und meine Befürchtung bestätigte sich. Die Waffe war auf mich gerichtet.

»Dachtest du, ich hätte dich auf dem Baum nicht gesehen?«, spuckte sie förmlich aus. Sie klang so gehässig, so wütend. Anders als Gerda. »Dachtest du, ich hätte deines mickrigen Versuches eines Lagerfeuers nicht gesehen?«

Ich konnte nichts sagen. Mein Herz schlug schnell. Ich hatte Angst. Solche Angst. Meine Augen schlossen sich, als sie ihre Waffe unsanft gegen meinen Kopf drückte. Ich wollte vor Schmerzen aufschreien, doch ich hielt mich zurück. Gerda und Kian waren verloren. Unter diesen Umständen würde ich sie nie wiedersehen. Sie würden mich nie wiedersehen.

»Antworte, Mädchen!«, schrie sie.

Doch ich antwortete nicht.

»Sei froh, dass wir den Magnar getötet haben. Ein Magnar wird nie müde. Er hätte dich zerfleischt.« Sie atmete laut aus. »Du kommst mit mir.«

Dann zog sie an meinem Arm, mit der Waffe gegen meine Seite gedrückt. So liefen wir zwischen den dichten Bäumen, Seite an Seite. Durch ihren festen Griff stolperte ich einige Male, weshalb sie mich immer wieder schnaubend an sich drückte. Sie roch nach Blumen. Ich wusste nicht, wie das ging. Gerda hatte uns oft Seife besorgt, aber nie rochen wir so intensiv nach etwas Frischem, etwas Gutem. Und ihre Lippen waren knallrot. War das Blut? War es Farbe? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das eine gute Idee sein könnte, Blut an die Lippen zu schmieren. Warum hatte sie das getan?

Warum nahm sie mich mit?

»Hör auf mich so anzugucken«, fauchte sie.

Sie war so schön, sah aus wie ein Engel. Ich hatte zu meinem neunten Geburtstag ein Bilderbuch über schöne Engel bekommen, die laut dem Buch über mich wachten. Sie sah genauso aus – mit ihren hellen Haaren, ihrem schönen Gesicht. - aber ihr Verhalten war ganz anders. Ihr Verhalten machte mir Angst. Als sie mich mit ihren eisblauen Augen anguckte, so tief und so angsteinflößend, musste ich weggucken.

Ich war so tot.

Es würde niemand kommen, um mich zu retten. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also ließ ich mich einfach durch den Wald mitziehen. Sollte ich dagegen ankämpfen? Sollte ich versuchen zu flüchten? Sie hatte aber Waffen. Sie würde mich erschießen.

Warum hatte ich nicht bemerkt, dass sie da war? Warum hätte ich nicht einfach besser drauf achten können? Jetzt war alles zu spät. Warum war ich nur so dumm gewesen?

Meine Füße schmerzten, mein Magen knurrte vor Hunger, mein Herz schlug immer noch zu schnell vor lauter Angst. Sie zog mich immer noch mit und langsam sah ich die beiden Männer, die mit ihr gewesen waren. Sie hatten auf uns gewartet. Auf sie. Sie saßen auf einem großen Stein, mit einem eisernen Blick wie sie auf ihrem Gesicht. Die Ärmel hochgekrempelt, die Hände voll mit Blut. Der tote Magnar war neben ihnen, an einem Seil gebunden, bereit zum Mitschleppen.

Als ich vor ihnen stand und sie sich hoben, fühlte ich mich so mickrig. So klein neben ihnen. Einer von ihnen war bestimmt zwei Köpfe größer als ich.

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt