Kapitel 28

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Arora

25.09.668

Sonntag

Ich saß noch ein wenig auf dem Stuhl, dachte über das Leben und unsere Freundschaft nach, die wir gemeinsam geteilt hatten, dachte über die verlorenen Jahre, die wir hätten zusammen verbringen können. Eine Freundin, wie es sie nicht mehr gab. Auch wenn May ziemlich nahe drankam, und ich sie auch unglaublich liebte, war es mit Odette anders gewesen. Nicht besser, nicht schlechter, einfach nur vollkommen anders.

Und ich konnte nicht zulassen, dass May auch was passierte. Eine Auserwählung konnte ich nicht verhindern, aber vielleicht die Tat der Obersten, die uns nach der Unsterblichkeit erwarteten. Sie konnte ich vor diesem Schicksal bewahren.

So langsam stand ich auf und verließ den Raum der Seelen, bereit, nach vorne zu blicken und die Vergangenheit fürs Erste ruhen zu lassen. Ich würde zurückkommen, wenn es mir möglich war und Odette berichten, dass ich erfolgreich war.

»Und, wie war's?« Die Stimme Murphy's ließ mich ungewollt zusammenzucken. Er stand neben der Tür, an die Wand angelehnt, mit seinen Händen in den Hosentaschen. Dasselbe unschuldige, nette Gesicht, dieselbe nette Art, die für mich da sein wollte, warum auch immer.

»Es war gut. Danke für deine Hilfe vorhin.« Ich lächelte ihn an und lief langsam weiter, er stieß sich von der Wand ab und folgte mir. »Hast du auf mich gewartet?«

»Ja«, gab er zu. Ein leises Lachen entwich ihm, aber kein glückliches. Mit einem Zittern, das man kaum bemerken konnte. »Ich wollte mit dir reden.«

»Ja? Worüber?«

»Über May.« Wir kamen beim Aufzug an, er drückte auf den Knopf. »Können wir ein wenig raus? Uns hinsetzen und reden? May ist gerade bei den Neugeborenen und wird erst abends wieder dort rauskommen – das heißt, wir hätten Zeit.«

»Natürlich«, murmelte ich, spürte die Angst in meinem Herzen, das Flattern, das viel zu stark war. Worüber genau wollte er reden? Ahnte er was?

Wir fuhren mit dem Aufzug nach unten, entschieden uns dann doch drin zu bleiben, da wir keine Jacken hatten und zu faul waren, um sie abzuholen. Wir setzten uns ins Foyer, auf die Treppenstufen, die zur Bühne führten, mit der Aussicht nach draußen. Es war schön hier. Keiner war hier, also konnten wir uns in Ruhe unterhalten.

»Sag, was ist los?«, verlangte ich zu wissen, mit der Hoffnung, dass es nichts mit dem Geheimnis zu tun hatte, welches May für mich trug. »Ist alles okay zwischen euch?«

»Ja, so gesehen schon.« Seine eisblonden Haare fielen ihm ins Gesicht und er machte sich nicht die Mühe, sie nach hinten zu schieben. Er blickte nach unten. »Du weißt ja, May und ich sind erst seit kurzem ...« Er überlegte, schien nicht zu wissen, was die beiden tatsächlich füreinander waren. »Ein... also, ich weiß nicht, was wir sind, aber wir sind etwas füreinander. Etwas Gutes, was man nicht verlieren will.«

»Ich weiß«, sagte ich vorsichtig.

»Das heißt bloß, ich kann sie nicht so gut einschätzen. Ich kenne sie zwar, seit ich denken kann, jedoch haben wir uns nicht immer besonders leiden können. Erst vor der Auserwählung passierten Sachen zwischen uns, die uns näher zusammenbrachten und... nun ja, schließlich haben wir bemerkt, dass wir uns gegenseitig doch ziemlich gernhaben.«

Wieder überlegte er. Zu lange. Zu vorsichtig. Ich wollte ihn packen und anschreien, er solle mir gefälligst einfach erzählen, was sein Problem war. Er machte mich nervös, ich hatte das Gefühl, er wusste etwas, was er nicht wissen sollte. Aber ich beherrschte mich – mehr oder weniger. Ich spielte mit meinem Ring, an den ich mich langsam wieder gewöhnte, und tapste mit dem Fuß. Nachdem er immer noch nichts gesagt hatte, stupste ich ihn leicht mit der Schulter an. Er schüttelte den Kopf, als hätte ich ihn aus einer Trance herausgeholt und führte fort.

»Sie hat sich verändert. Anfangs dachte ich, es läge daran, dass wir uns noch so richtig aneinander gewöhnen müssen, aber von Tag zu Tag wird sie ... nervöser. Vorsichtiger. Sie fühlt sich unwohl und kann kaum entspannen. Ich dachte, vielleicht mag sie mich doch nicht, aber sie versicherte mir, dass sie es tat. Dass es etwas anderes wäre und sie es mir einfach nicht erzählen könnte. Aber Arora, es geht ihr wirklich nicht gut. Als ich dich heute gesehen habe, hast du mich an sie erinnert. Du bist genauso wie sie. Du fühlst dich nicht wohl, du bist vorsichtig und nervös bist du gerade auch.«

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und zwang mich, sie wieder zu entspannen und einfach auf meinem Schoss zu lassen. Ich hörte auf mit dem Fuß zu tapsen, auch wenn mir das besonders schwerfiel, und seufzte langsam auf. »Ich wusste nicht, dass es ihr so schlecht geht, wie du es beschreibst.« Das stimmte. Ich dachte, vielleicht, dass sie natürlich besorgt wäre, aber nicht, dass man ihr so sehr anmerken konnte, wie schlecht es ihr anscheinend ging. Ich musste nochmal mit ihr reden. Ich musste ihr sagen, dass sie nicht mitkommen würde. »Es wird alles gut«, versicherte ich ihm, auch wenn ich es nicht wusste.

»Was wird gut? Was ist los mit euch?« Der Frust in seiner Stimme war hörbar, er versuchte sie auch nicht zu verstecken. Nun lag sein Blick auf mir und ich fühlte mich entblößt.

»Murphy.« Ich drehte mich zu ihm, erwiderte seinen Blick. »Ich kann dir nichts Weiteres sagen, als dass ich mich drum kümmern werde. Ich weiß warum es ihr so geht, und es hat nichts mit dir zu tun, sondern mit mir. Es ist meine Schuld.« Ich hätte ihr nichts sagen sollen. Es für mich behalten sollen.

»Ich möchte, dass du es mir sagst.«

»Das kann ich nicht.«

»Es ist mir egal, dass es nichts mit mir zu tun hat. Ich habe das Recht zu wissen, was die Frau, die mir wichtig ist, bedrückt«, sagte er und wählte seine Worte sorgfältig. »Damit ich ihr helfen kann. Mit ihr reden kann.«

»Wie sehr magst du sie? Liebst du sie?« Würde er sich um sie kümmern, wenn ich wegging? Ich hoffte es.

»Liebe?« Er verharrte einen Moment, dachte nach. »Okay«, begann er, als würde er sich für die Antwort bereitstellen wollen. »Ich liebe ihre Anwesenheit in meinem Leben. Ich liebe es, Zeit mit ihr zu verbringen. Ja, vielleicht fange ich sogar an, sie zu lieben. Ich weiß nicht wirklich, was es ist, was ich fühle. Ich weiß nur, dass ich nicht möchte, dass es endet.«

Ich stand auf, als er es tat. »Ich möchte, dass du für sie da bist, okay? Verbringe Zeit mit ihr. Frag' sie noch nicht nach dem, was sie bedrückt, denn ich möchte zuerst mit ihr sprechen. Vielleicht wird das, was ich ihr sagen möchte, sie erleichtern.«

Er antwortete nicht. Er wusste, dass er von mir nicht mehr viel herausholen würde. Ich hatte ihm gesagt, was ich konnte, ohne wirklich preiszugeben, was wirklich los war.

»Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich hoffe, du wirst ihr helfen können. Ihr geht es nicht gut.«

Ich nickte. »Ich werde tun was ich kann, Murphy. Ich werde heute mit ihr reden.« Vielleicht war sie traurig, weil sie dachte, sie würde mich begleiten. Weil sie die Leute hier zurücklassen musste. Anders als ich hatte sie mehrere Freunde, nun sogar einen Geliebten und Babys, denen sie ihre Zeit widmete, die sie zu lieben begonnen hatte. Sie wollte hier nicht weg, aber sie würde es mir zuliebe tun.

Nach einer Weile verabschiedeten wir uns. Ich lief zum Aufzug, mein Herz schwer klopfend, als ich plötzlich etwas an meiner Hand spürte. Ein leichtes Streifen, kaum bemerkbar, aber es war da gewesen. Ich drehte mich um, nahm meine rechte Hand in meine linke, berührte die Stelle, die wie vom Winde geküsst wurde. Und als ich sah, dass Professor Abel hinter mir war, Richtung Foyer lief, wusste ich, dass es seine Hand gewesen war, die meine gestreift hatte.

Ich hatte nicht bemerkt, dass er an mir vorbeigelaufen war. Ich hatte nicht einmal seinen Duft wahrgenommen. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen drehte ich mich zurück, auch wenn ich am liebsten zu ihm gegangen wäre, um mit ihm zu reden, ihn anzusehen, ihn zu fragen, ob wir nicht einfach sofort verschwinden konnten. 

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt