Kapitel 21

7 2 0
                                    


Arora

19.09.668

Sonntag


»Du lebst in einer Bücherwelt«, merkte May an, als ich ihr die Neuigkeiten erzählte.

»Was meinst du?«

»Nun ja, denk mal darüber nach. In Büchern dreht sich alles darum, dass die Hauptfiguren die Welt retten müssen. Du lebst in einer Welt, die vielleicht nicht fair ist, entdeckst Geheimnisse, die dein Leben auf den Kopf stellen, und stehst vor der Entscheidung: Lebst du weiter wie bisher und bleibst unzufrieden, oder trittst du gegen das Bekannte an und kämpfst für Gerechtigkeit? Ach ja, und währenddessen triffst du die Liebe deines Lebens und lässt sogar deine beste Freundin im Internat zurück, um durchzubrennen!«

»Ich brenne doch nicht durch!«, protestierte ich entsetzt.

»Aber du verlässt mich«, murrte sie.

»Das tu' ich gar nicht.« Doch sie hatte recht. Wenn ich mit Professor Abel aus dem Internat flüchten würde, würde ich sie zurücklassen. Ich würde alle zurücklassen.

Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu und ich schmollte.

»Meinst du, ich kann mitkommen? Vielleicht kann ich ja Murphy mitnehmen und wir helfen dir, die Zone zu finden?«

Mein Herz machte einen holprigen Satz. »Hast du Murphy was erzählt?« Ich wusste nicht, ob ich ihm vertrauen konnte. Dafür kannte ich ihn nicht gut genug – ich kannte ihn überhaupt nicht.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat keine Ahnung.«

Erleichtert lehne ich mich zurück. »Ich würde dich gerne mitnehmen. Aber es ist viel zu gefährlich und wenn ich einen Fehler begehe, dann will ich dich nicht mit reinziehen«, gab ich zu. Sie war hier vorerst sicher. Sie sollte nicht mitkommen. Sollte ihr Leben nicht beenden, nur, weil ich an der Wahrheit des Systems zweifelte. Nur weil ich Nachrichten aus der Außenwelt bekam und diese hinterfragte.

»Du hast mich schon mit reingezogen und ich bin dir dankbar deshalb. Ich komme mit dir.«

Ich lächelte sie sanft an, wusste, es war aussichtslos, jetzt mit ihr darüber zu diskutieren. Ich musste vorerst kapitulieren, ihre Entscheidung akzeptieren, nur um sie später zu enttäuschen. Es musste sein.

Es musste sein.

Es war ein beruhigender Gedanke, sie mitzunehmen. Jemanden an meiner Seite zu haben, dem ich wirklich vertrauen konnte. Auch wenn ich Professor Abel auch zu vertrauen begann, so kannte ich ihn nur eine Woche. Eine Woche war keine kurze Zeit für die Sterblichen, in der unsterblichen Welt war es jedoch nur ein flüchtiger Augenblick. War es richtig, jemandem zu vertrauen, den man nur einen Wimpernschlag lang kannte?

Es wäre schön, wenn sie mitkommen würde, aber irgendwas hielt mich davon ab, diesen Gedanken zu akzeptieren.

Um abzulenken, hob ich eine Augenbraue hoch und sah sie mit Bedacht an. »Ich treffe die Liebe meines Lebens?«

Sie grinste. »Klar.«

»Und wer soll das sein?«

»Na, Professor Abel.« Ein leises Lachen verließ meine Kehle und sie redete weiter. »Wie lange warst du jetzt mit ihm in seinem Apartment? Zwei Stunden? Du sitzt auf seinem Bett und guckst dir Videos mit ihm an? Er tröstet dich, nachdem du weinst? In meinen dreiundzwanzig Jahren habe ich sowas noch nie erlebt.«

»Deine Sichtweise von Liebe ist kaputt«, warf ich ihr vor.

»Da magst du wohl recht haben«, murmelt sie nun. »Naja, wir werden sehen. Ich bin gespannt auf die morgige Belehrung mit ihm. Ich werde all seine Blicke an dich beobachten wie ein Wachhund. Alles protokollieren. Wir werden's Schwarz auf Weiß vor uns haben.«

»Dann werde ich dich enttäuschen müssen. Er ist nur mein Komplize. Wir werden wahrscheinlich nur abhauen, die Rebellion finden und herausfinden, was nun die Wahrheit ist. Mehr wird da nicht sein. Wir verstoßen gegen die Regeln, aber nicht so, wie du es dir erhoffst.«

»Bla, bla, bla«, sagte sie neckend. Ich schubste sie und sie fiel theatralisch auf das Bett.

»Lass uns spazieren«, schlug ich vor.

Die kühle Luft würde mir guttun. Mir zeigen, dass ich real war. Es würde mir klare Gedanken verschaffen, die ich so unbedingt brauchte, bevor ich heute das letzte Mal zum Professor ging und zwei Stunden in seinem Büro verbrachte. Bevor wir endgültig entschieden, nein, bevor ich endgültig entschied, ob wir ausbrechen und die Rebellion suchen würden. Denn er war bereit. Er wollte es riskieren. Er wollte mein Leben riskieren. War die Außenwelt sicher für mich? Versprach dieser Ausbruch die Antworten zu den Fragen, die meinen Kopf beherbergten?

Zu meinem Glück akzeptierte May meinen Vorschlag und wir machten uns bereit. Zogen dicke Jacken an, dicke Socken, Schale, Handschuhe und feste Schuhe, um ja nicht zu erfrieren. Obwohl ich liebend gerne in meinem Sommerkleid nach draußen gegangen wäre, um die Kälte richtig zu spüren. Aber wahrscheinlich wäre ich dann gestorben.

Wie sollte ich den Ausbruch bloß überleben?

Draußen schlenderten wir der Mauer entlang nach vorne, meine rechte Hand, isoliert im schwarzen Handschuh, streifte die Moosbedeckte Barriere zwischen Gefängnis und Freiheit, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen sterblich und unsterblich.

»Wie läuft es mit den Neugeborenen?«, fragte ich sie, tatsächlich neugierig darüber, ob sie ihre Meinung diesbezüglich geändert hatte. Mochte sie nun die Babys mehr leiden? Konnte sie den Anblick dieser Wesen nun mehr ertragen?

»Es ist eine vollkommen andere Welt«, begann sie, die Stirn gerunzelt und mit dem Blick in den Himmel. Sie hakte sich bei meinem linken Arm ein. »Sie sind laut. Ich mein, das wussten wir ja schon, als wir damals ihre Schreie durch die Flure hörten. Aber wenn man neben ihnen ist, sind die Schreie anders. Man sieht ihre Gesichter dabei, ihre zarten Hände, ihre winzigen Füße. Den Blick, den sie haben, wenn sie um die Wette schreien. Und plötzlich ist man nicht genervt von der Lautstärke. Man ist besorgt, neugierig und... und da ist so ein Gefühl, was ich nicht beschreiben kann. Es ist... es ist...«

Eine Weile überlegte sie. Doch sie fand tatsächlich keine Worte und gab seufzend auf.

»Und wenn sie mal nicht schreien, sondern schlafen oder dich mit einem so vertrauten Blick ansehen, dann schmilzt man dahin. Ich kann es mir nicht erklären. Letztendlich werden auch diese Babys wachsen und so alt wie wir werden, hinter ihnen steckt auch nur ein Mensch. Nichts Besonderes. Nichts... nicht anders als wir. Und doch sind sie anders. So winzig und unschuldig, und unglaublich süß.« Sie lächelte sanft. »Ich bin traurig um die ganzen Jahre, die ich mit den Neugeborenen hätte verbringen können, es aber nicht getan habe.«

Ein Gedanke blitzte in mir auf und für eine Sekunde schmerzte es in mir drin. Wie sollte ich sie mitnehmen, wenn sie doch so viel Liebe für die winzigen Dinger empfand, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten? Wie sollte ich ihr sowas entreißen? Die Zeit, die ihr blieb, sollte sie hier verbringen. Mit Murphy. Mit den Neugeborenen. So schön der Gedanke auch war, sie bei mir zu haben, als meine sichere Person, die mich emotional beschützte und mir einen Halt gab, so konnte ich diese Selbstlosigkeit nicht von ihr verlangen.

Um mich nicht mehr umstimmen zu können, verlangte ich mehr zu wissen – mehr von der Liebe, die sie verspürte. Mehr von den Geschichten, die sie mir über die Neugeborenen erzählen konnte.

Und dabei hatte ich das Gefühl, von den Mauern ausgelacht zu werden. 

Lieder des einsamen Waldes: Im Bann der EwigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt