Kapitel 22

52 5 0
                                    

E R Z Ä H L E R

„Er ist bei mir, wo immer ich bin", sagte Quirrell leise. „Ich traf ihn bei meiner Reise um die Welt. Damals war ich noch ein einfältiger junger Mann, mit dem Kopf voll lächerlicher Vorstellungen über Gut und Böse. Lord Voldemort hat mir gezeigt, wie falsch ich dachte. Es gibt kein Gut und Böse, es gibt nur Macht, und jene, die zu schwach sind, um nach ihr zu streben ... Seit damals bin ich sein treuer Diener, auch wenn ich ihn viele Male enttäuscht habe. Er musste sehr streng mit mir sein." Quirrell zitterte plötzlich. „Fehler vergibt er nicht so einfach. Als es mir nicht gelungen ist, den Stein aus Gringotts zu stehlen, war er äußerst missvergnügt. Er hat mich bestraft ... und beschlossen, mich näher im Auge zu behalten ..."
Quirrells Stimme verlor sich. Harry fiel der Besuch in der Winkelgasse ein - wie konnte er nur so dusslig gewesen sein? An jenem Tag hatte er Quirrell dort gesehen und ihm im Tropfenden Kessel die Hand geschüttelt.
Quirrell fluchte leise vor sich hin.
„Ich verstehe nicht ... ist der Stein im Innern des Spiegels? Sollte ich ihn zerschlagen?"
Harry raste der Kopf.
Was ich im Augenblick mehr als alles auf der Welt möchte, dachte er, ist, den Stein vor Quirrell zu finden. Wenn ich in den Spiegel schauen würde, müsste ich mich eigentlich dabei sehen, wie ich den Stein finde. Und das heißt, ich wüsste, wo er versteckt ist! Doch wie kann ich hineinsehen, ohne dass Quirrell bemerkt, was ich vorhabe?
Er versuchte sich ein wenig nach links zu bewegen, um vor das Glas zu kommen, ohne Quirrells Aufmerksamkeit zu erregen, doch die Seile waren zu fest um seine Knöchel gespannt: er stolperte und fiel zu Boden. Quirrell achtete nicht auf ihn. Er sprach immer noch mit sich selbst.
„Was tut dieser Spiegel? Wie wirkt er? Hilf mir, Meister!" Und zu Harrys Entsetzen antwortete eine Stimme und diese Stimme schien von Quirrell selbst zu kommen.
„Nutze den jungen ... Nutze den jungen ..."
Quirrell drehte sich zu Harry um.
„Ja, Potter, komm her"
Er klatschte einmal in die Hände und Harrys Fesseln fielen
von ihm ab. Langsam kam Harry auf die Beine.
„Komm her", wiederholte Quirrell. „Schau in den Spiegel
und sag mir, was du siehst."
Harry trat zu ihm.
„Ich muss lügen", dachte er verzweifelt. „Ich muss
hineinsehen und ihn darüber belügen, was ich sehe, das ist alles." Quirrell stellte sich dicht hinter ihn. Harry atmete den merkwürdigen Geruch ein, der von Quirrells Turban auszugehen schien. Er schloss die Augen, trat vor den Spiegel und öffnete sie
wieder.
Er sah zuerst sein Spiegelbild, bleich und verängstigt. Doch
einen Augenblick später lächelte ihn das Spiegelbild an. Es schob die Hand in die Tasche und zog einen blutroten Stein hervor. Es zwinkerte ihm zu und ließ den Stein in die Tasche zurückgleiten - und in diesem Moment spürte Harry etwas Schweres in seine wirkliche Tasche fallen. Irgendwie - unfasslicherweise - besaß er den Stein.
„Nun?", sagte Quirrell ungeduldig. „Was siehst du?"
Harry nahm all seinen Mut zusammen.
„Ich sehe mich, wie ich Dumbledore die Hand schüttle",
reimte er sich zusammen. „Ich ... ich hab den Hauspokal für Gryffindor gewonnen."
Quirrell fluchte erneut.
„Aus dem Weg", sagte er. Harry trat zur Seite und spürte den Stein der Weisen an seinem Bein. Konnte er es wagen zu fliehen? Doch er war keine fünf Schritte gegangen, als eine hohe Stimme ertönte, obwohl sich Quirrells Lippen nicht bewegten.
„Er lügt ... Er lügt ..."
„Potter, komm hierher zurück!", rief Quirrell. „Sag mir die Wahrheit! Was hast du gesehen?"
„Lass mich zu ihm sprechen ... von Angesicht zu Angesicht ..."
„Meister, Ihr seid nicht stark genug!"
„Ich habe genügend Kraft ... dafür ..."
Harry hatte das Gefühl, als würde ihn eine Teufelsschlinge
auf dem Boden anwurzeln. Er konnte keinen Muskel bewegen. Versteinert sah er zu, wie Quirrell die Hände hob und seinen Turban abwickelte. Was ging da vor? Der Turban fiel zu Boden. Quirrells Kopf sah seltsam klein aus ohne ihn. Dann drehte er sich langsam auf dem Absatz um.
Harry hätte geschrien, aber er brachte keinen Ton hervor. Wo eigentlich Quirrells Hinterkopf hätte sein sollen, war ein Gesicht, das schrecklichste Gesicht, das Harry jemals gesehen hatte. Es war kreideweiß mit stierenden roten Augen und, einer Schlange gleich, Schlitzen als Nasenlöchern.
„Harry Potter ...", flüsterte es.
Harry versuchte einen Schritt zurückzutreten, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen.
„Siehst du, was aus mir geworden ist?", sagte das Gesicht. „Nur noch Schatten und Dunst ... Ich habe nur Gestalt, wenn ich jemandes Körper teile ... aber es gibt immer jene, die willens sind, mich in ihre Herzen und Köpfe einzulassen ... Einhornblut hat mich gestärkt in den letzten Wochen ... du hast den treuen Quirrell gesehen, wie er es im Wald für mich getrunken hat ... und sobald ich das Elixier des Lebens besitze, werde ich mir meinen eigenen Körper erschaffen können ... Nun ... warum gibst du mir nicht diesen Stein in deiner Tasche?"
Er wusste es also. Plötzlich strömte das Gefühl in Harrys Beine zurück. Er stolperte rückwärts.
„Sei kein Dummkopf", schnarrte das Gesicht. „Rette besser dein eigenes Leben und schließ dich mir an ... oder du wirst dasselbe Schicksal wie deine Eltern erleiden ... Sie haben mich um Gnade angefleht, bevor sie gestorben sind ..."
„LÜGNER!", rief Harry plötzlich.
Quirrell ging rückwärts auf ihn zu, so dass Voldemort ihn im Auge behalten konnte. Das böse Gesicht lächelte jetzt.
„Wie rührend ...", zischte es. „Ich weiß Tapferkeit immer zu schätzen ... Ja, Junge, deine Eltern waren tapfer ... Ich habe deinen Vater zuerst getötet und er hat mir einen mutigen Kampf geliefert ... aber deine Mutter hätte nicht sterben müssen ... sie hat versucht dich zu schützen ... Gib mir jetzt den Stein, wenn du nicht willst, dass sie umsonst gestorben ist."
„NIEMALS!"
Harry sprang hinüber zur Flammentür, doch Voldemort schrie: „PACK IHN!", und im nächsten Augenblick spürte Harry, wie Quirrells Hand sich um sein Handgelenk schloss. Sogleich schoss ein messerscharfer Schmerz durch Harrys Narbe; sein Kopf fühlte sich an, als wolle er entzweibersten; er schrie und kämpfte mit aller Kraft und zu seiner Überraschung ließ Quirrell ihn los. Der Schmerz in seinem Kopf ließ nach - fiebrig blickte er sich nach Quirrell um und sah ihn vor Schmerz zusammengekauert auf dem Boden sitzen und auf seine Finger starren - vor seinen Augen trieben sie blutige Blasen.
„PACK IHN! PACK IHN!", kreischte Voldemort erneut. Mit einem Hechtsprung riss Quirrell Harry von den Füßen; Harry fiel auf den Rücken, Quirrell war auf ihm, mit beiden Händen fest um seinen Hals - Harrys Narbe machte ihn fast blind vor Schmerz, doch er hörte, wie Quirrell laut aufschrie.
„Meister, ich kann ihn nicht festhalten - meine Hände -meine Hände"
Und obwohl Quirrell Harry mit den Knien zu Boden presste, ließ er seinen Hals los und starrte entgeistert auf seine Handflächen - die, wie Harry sehen konnte, verbrannt waren und fleischig rot glänzten.
„Dann töte ihn, Dummkopf, und scher dich fort", schrie Voldemort.
Quirrell hob die Hand, um einen tödlichen Fluch auszustoßen, doch Harry streckte unwillkürlich die Hand aus und presste sie auf Quirrells Gesicht.
„AAAARRH!"
Quirrell rollte von ihm herunter, nun auch im Gesicht übersät mit Brandblasen, und jetzt wusste Harry: Quirrell konnte seine nackte Haut nicht berühren, ohne schreckliche Schmerzen zu leiden - seine einzige Chance war, Quirrell festzuhalten und ihm anhaltende Qualen zu bereiten, so dass er keinen Fluch aussprechen konnte.
Harry sprang auf die Füße, griff Quirrell am Arm und packte so fest zu, wie er konnte. Quirrell schrie und versuchte Harry abzuschütteln - der Schmerz in Harrys Kopf wurde immer heftiger - er konnte nichts mehr sehen - er konnte nur Quirrells schreckliche Schreie und Voldemorts Rufe hören: „TÖTE IHN! TÖTE IHN" - und auch andere Stimmen, vielleicht in seinem Kopf, die riefen: „Harry! Harry"
Er spürte, wie Quirrells Arm seinem Griff entwunden wurde, wusste, dass nun alles verloren war, und fiel ins Dunkel, tief ... tief ... tief ...

Harry Potter 1 /FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt