Kapitel 35

6 1 0
                                    

Sauron sprach in der dunklen Sprache Mordors. Für die Meisten waren es nicht mehr als ein paar Zischlaute und ein bisschen Grollen.
Aragorn ließ seine Klinge sinken.
Lumiel verzog das Gesicht.
Tu, was du nicht lassen kannst, antwortete sie in ihrem Kopf auf die Drohung, er würde kommen und sie holen und jeden, den sie liebte vor ihren Augen ermorden lassen.
Aragorn drehte sich wieder zu ihnen um.
"Für Frodo", meinte er, ehe er Anduril wieder hob und nach vorn stürmte.
Merry und Pippin folgten ihm mit lautem Geschrei. Ihnen folgten Gandalf, Legolas, Gimli, Lumiel und die ganze Armee.
Die letzte Schlacht hatte begonnen.
Lumiel schlug mit beiden Schwertern um sich. Ein weiteres Mal fielen ihr links und rechts Orks zum Opfer: hier flog ein Kopf, da erstach sie einen.
"Uh, volle Breitseite!", freute sie sich, als sie einem Ork die breite Seite ihres Schwertes gegen den Kopf donnerte und lachte dann über ihr Wortspiel.
Links ein Schwertstreich, rechts ein Schwertstreich, einmal ducken und einem von vorne kommenden Ork das Schwert ins Herz rammen.
Links flog ein Kopf, rechts flog ein Kopf, geradeaus...flog kein Kopf, denn da war Legolas und den wollte sie behalten.
Links ein amputiertes Bein und dann ein fliegender Kopf mit dem Schwert der rechten Hand, rechts ein amputierter linker Schwertarm und dann das Schwert in der linken Hand ins Herz.
Lange dauerte dieses fröhliche Gemetzel jedoch nicht, denn da ertönte lautes Kreischen und die Nazgûl erschienen auf ihren Flügelwesen.
Jetzt musste Lumiel auch noch aufpassen, dass sie nicht vom Boden gepflückt und nach Mordor geflogen wurde. Welch großartige Aussichten.
Lange dauerte ihre Misere jedoch nicht, denn da ertönte der Schrei eines Raubvogels und der Ringgeist, der gerade angesetzt hatte, sie mit den Klauen seines Flügelwesens zu ergreifen, wurde von einem Adler angegriffen.
"Adler!", freute sich Pippin. "Die Adler kommen!"
"Das habe ich mitbekommen", kommentierte Lumiel. "Schließlich bin ich gerade von einem gerettet worden."
Vielleicht hätte sie das nicht so laut sagen sollen, denn ehe sie es sich versah, schlossen sich Klauen um ihren Körper und drückten ihren rechten Arm gegen ihren Rumpf und sie wurde in die Luft gehoben.
"Och, das darf doch jetzt nicht wahr sein!", keifte sie empört. "Lass mich runter, du blödes Mistvieh!"
"Lumiel!", hörte sie die entsetzten Schreie ihrer Gefährten.
"Wenn du meinst, dass ich mich einfach so mir nichts, dir nichts zu deinem Herrn und Meister fliegen lasse, dann hast du dich aber getäuscht!"
Sie versuchte gar nicht erst, nach den Klauen zu hacken, die sie umklammert hielten. Sie wusste, dafür war ihr Schwert zu lang und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich selbst umbrachte, zu groß.
Stattdessen schlug sie nach den Beinen und dem Rumpf des Biestes.
"Lass! Mich! Los!"
Mit jedem Wort führte sie einen Schwerthieb.
Nun, was soll ich sagen: Ihr Wunsch wurde ihr gewährt. Das Flügelwesen war kein Freund davon, wenn sich seine Beute wehrte und ließ sie, einige hundert Meter über dem Boden Mordors fallen.
"Oh scheiße...", bemerkte Lumiel, während der Boden immer näher kam.
Wie praktisch wäre es jetzt, wenn sie statt der heilenden Kräfte, die Kraft, sich in einen Drachen zu verwandeln geerbt hätte.
Sie riss die Augen auf. Sie würde abtreten, ohne Naira als ihre Mutter kennenzulernen. Sie würde abtreten, ohne Thorin und ihre Geschwister kennenzulernen. Sie würde abtreten, ohne Legolas zu sagen, dass sie ihn liebte.
Sie stieß ein freudloses Lachen aus.
"Oh, nein, nicht heute", beschloss sie.
Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, als sie die Augen schloss und sich vorstellte, sich in einen Drachen zu verwandeln, aber es war ganz sicher nicht das abermalige Umschlossen-werden von Klauen.
"Das reicht!", keifte sie.
Sie wollte einen Schwerthieb nach oben führen, doch als sie die Augen öffnete, sah sie über sich Federn statt lederner Haut und dann wurde sie auf dem Boden abgesetzt.
"Ich danke vielmals", rief sie dem Adler nach, als der sich wieder anschickte, die Nazgûl anzugreifen.
Sie bekam ein lautes Adler-Kreischen als Antwort.
"Das hab ich verdient...", murmelte sie vor sich hin, bevor sie wieder in ihren alten Trott von links ein toter Ork, rechts ein toter Ork verfiel.
So metzelte sie fröhlich weiter vor sich hin, absolut unwissend, dass sie auf der anderen Seite des Schlachtfeldes abgesetzt worden war und, dass ihre Freunde keinerlei Ahnung hatten, dass es ihr gut ging.
Sie bemerkte es erst, als sie Aragorn halb durch die Luft fliegen sah. 
Das sollte nicht passieren. Das durfte nicht passieren. Und so machte sie es zu ihrer ganz persönlichen Mission, sich zu ihren Freunden durchzukämpfen.
Das funktionierte so semi-gut. Also gar nicht. Wie sich nämlich herausstellte, hatte sie eine Übermacht gegen sich. Gut, das war ihr vorher auch schon bewusst gewesen, aber sie hatte nicht geglaubt, dass sie sie davon abhalten könnte, zu ihren Freunden zu kommen, wenn sie zu ihnen wollte.
Eine Idee schoss ihr durch den Kopf. Sie konnte den Blutfluss von Wunden stoppen, um sie zu heilen. Konnte sie den Blutfluss vielleicht auch ohne Wunde stoppen?
Sie stellte sich das Blut in den Blutbahnen der Orks vor - keine Vorstellung, die man gerne haben möchte - und befahl ihm, nicht mehr zu fließen. Sie konnte sich nicht einzig und allein darauf konzentrieren, denn sie musste aufpassen, dass sie bei ihrem genialen Plan nicht abgemurkst wurde.
Ihrem ersten Opfer explodierte der Kopf und sie bekam Blut und Gehirnmasse, von der es bei Orks scheinbar doch mehr gab, als sie erwartet hatte, auf die Rüstung.
Sie schüttelte sich, vollkommen angeekelt.
"Ist das so schwer, einfach tot zu Boden zu fallen, ohne einen Aufstand zu machen?", meckerte sie.
Ihrem zweiten Opfer floss Blut aus allen Körperöffnungen. Lumiel hatte nicht wissen wollen, wo sich bei Orks Körperöffnungen befanden.
"Dann stirb halt an Blutverlust. Sehe ich so aus, als interessierte mich die Art deines Todes? Mich interessiert nur, dass du stirbst!"
Ihr drittes Opfer ging sehr unspektakulär zu Boden und Lumiel war beinah enttäuscht. Zumindest, bis etwas in seiner Hose explodierte. Sie war sehr froh, dass er Hosen getragen hatte, denn sie wollte wirklich nichts von dem Zeug auf ihre Rüstung bekommen.
"Gelobt seien Hosen", meinte sie nur. "Wer ist mein nächstes Opfer? Wer will noch mal? Wer hat noch nicht?"
Gut, vielleicht waren heilende Kräfte im Kampf doch nicht so unnütz. Vor allem dann, wenn man sie umfunktionierte.
So tauchte Lumiel denn auch bald neben Legolas auf, blutverschmiert und dreckig, aber unversehrt.
Leider brachte es beiden gar nichts, dass sie einander gefunden hatten, denn zu Aragorn kamen sie auch zusammen nicht. Dafür sorgten die Orks.
Lumiel knurrte.
"Müssen euch alle irgendwelche Körperteile platzen, bevor ihr mir aus dem Weg geht, oder was?!"
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, vollkommen darauf vertrauend, dass Legolas sie beide schon verteidigen würde. Drei Orks um sie herum gingen zu Boden. Keine Glanzleistung, aber wenigstens waren sie einen Schritt näher an Aragorn, der am Boden lag, einen Trollfuß auf der Brust. Bis ein Soldat Gondors ihnen den Weg versperrte.
Sein Blut durfte Lumiel nicht stoppen, obwohl sie es in diesem Moment liebend gern getan hätte.
Glücklicherweise brauchte sie niemandes Blut mehr stoppen, denn gerade, als der Troll zu einem Schwerthieb gegen den noch nicht gekrönten König ansetzte, ertönte ein schriller Schrei und alle Orks hielten inne.
Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf Barad-dûr. Das große, flammende Auge auf seiner Spitze flammte kreischend auf und die Orks ergriffen die Flucht.
"Feiglinge!", rief Lumiel ihnen nach.
Ein heißer Wind kam von Mordor. Er biss Lumiel in den Augen, doch sie konnte den Blick nicht abwenden.
Neben ihr ergriff Legolas ihre Hand.
Dann brach Barad-dûr unter den schrecklichen Schreien des Auges zusammen. Noch bevor die Spitze des Turmes den Boden erreicht hatte, erlosch das Auge vollends. Sein letzter Funke explodierte und jagte eine Schockwelle über das Land.
Es fühlte sich an, als würde eine große Last von Lumiels Herzen fallen. Alle Zweifel verschwanden und ihre Schuldgefühle schrumpften auf eine normale Größe. Sie waren noch da, aber sie schienen ihr nicht mehr so erdrückend wie vorher.
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein euphorisches Lächeln aus und sie fiel Legolas um den Hals.
"Frodo!", rief Merry fröhlich. "Frodo!"
Um sie herum wurde bereits gefeiert, doch Legolas und Lumiel konnten die Blicke nicht voneinander abwenden.
"Ich liebe dich", gestand Lumiel dem Elben. "Ich glaube, das habe ich schon eine ganze Weile getan, aber ich war zu blind, es zu sehen."
Legolas küsste sie.
"Und ich liebe dich", antwortete er, nachdem er seine Lippen wieder von ihren gelöst hatte. "Ich weiß, dass ich es schon seit Jahren tue."
Ihre Liebesbekundung wurde durch den tosenden Wegbruch des Bodens unter den Füßen der Orks und dem Zusammenbruch des Schwarzen Tores unterbrochen.
Dann spuckte der Schicksalsberg Lava und die Feier machte furchtbarem Entsetzen Platz.
"Nein", flüsterte Lumiel. "Frodo...Sam..."
Legolas legte eine Hand auf ihren Hinterkopf und zog sie gegen seine Brust.
Lumiel hörte das Rauschen von Schwingen. Sie wagte einen Blick. Ein Adler war gelandet und Gandalf stieg auf seinen Rücken.
"Sie fliegen sie suchen...", erkannte sie und versuchte, sich von dem Elben zu lösen, doch der hielt sie fest. "Ich will mit."
"Willst du das wirklich?", fragte Legolas sanft. "Oder willst du dir selbst beweisen, dass du den Mut hast, dich der möglicherweise schrecklichen Wahrheit zu stellen?"
Sie antwortete nicht.
"Sie werden sie finden", machte er ihr Mut. "Und sie werden sie zurückbringen. Du wirst erfahren, wie es ihnen geht."
Lumiel nickte nur und verbarg ihr Gesicht wieder an des Elben Brust. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihre Tränen sah.

Von Maerwyn und Lumiel (Der Herr der Ringe Fan-Fiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt