Die Situation war surreal.
Harold atmete ein weiteres Mal aus, als er sich mit einem flüchtigen Blick zur Seite vergewisserte, ob das gerade wirklich passiert war.
Wie wahrscheinlich war es gewesen, dass die Frau, die er nachts noch stumm beobachtet hatte, nun neben ihm stand. War sie für einen Tag nur eine Art Schatten in seiner Erinnerung gewesen, befand sie sich nun neben ihm, aus Fleisch und Blut.
Sie hatte ihren Blick leicht gesenkt, als sie so neben ihm her ging. Sie wirkte mindestens so gedankenverloren wie auch er es gerade war. Er konnte aus irgendeinem Grund keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein Gehirn schien immer mehr zu einer einzigen Masse zu werden. Das Brennen unter seinen Rippen blendete er aus, obwohl sich dort sicherlich schon jetzt ein dunkler Bluterguss anbahnte, der ihn noch eine Weile an diesen Zusammenstoß erinnern würde.
Zumindest bis jetzt, als sie auf irgendetwas zuzugehen schien - abseits des Weges, der sowieso schon nicht gerade ideal befestigt war. Als passe ihr Abendkleid nicht sowieso schon nicht an diesen Ort, kniete sie sich nun auch noch damit auf den Boden. Das kräftige Rot des Stoffs schien sich immer mehr in ihre Umgebung einzublenden.
Das Paar Schuhe stellte sie einfach neben sich, ohne wirklich darauf zu achten, ob sie noch schmutziger wurden, als sie es schon waren.
Doch so viel konnte er sie schon einschätzen: vermutlich war es ihr ganz und gar egal. Sonst liefe sie nicht in diesem Aufzug neben ihm her. Nach ihrem gemeinsamen Sturz hatte sie sich nicht einmal die ganze Erde vom Rock geklopft.
"Sehen Sie." Sie schaute über ihre Schulter in seine Richtung, die Dunkelheit warf Schatten über ihr Gesicht, die es noch einzigartiger wirken ließen, ihre Haare umrahmten dabei die Konturen.
Mit einer Hand deutete sie in Richtung des Gebüschs, vor dem sie kniete. Ihre andere Handfläche diente ihr als zusätzliche Stütze. Dabei sah man selbst zwischen den Grashalmen das Glänzen eines der Ringe, die sie an dieser Hand trug.
"Das muss von Rehen sein", deutete sie in das tiefe Gestrüpp und Harold blieb nichts anderes übrig, als sich neben sie zu knien und ihrer Geste zu folgen - natürlich mit einem gewissen Abstand.
Nun schaute auch er mit zugekniffenen Augen auf den Haufen von dünnen Ästen und Laub, dem man ansah, dass er von etwas plattgedrückt worden war - vielleicht wirklich von Rehen.
"Ich dachte Rehe meiden die Nähe von Menschen", flüsterte er, als befürchte er, dass sich tatsächlich irgendwelche Tiere in der Nähe befanden. "Sie laufen doch schon vom Geruch weg", fügte er hinzu und drehte sich kurz zu der jungen Frau, nur um dann in seiner Bewegung zu stocken.
Sie sah sie mit großen Augen interessiert an, hörte ihm genauestens zu und ließ ihn ausreden. Eine Eigenschaft, die seiner Meinung nach viel zu wenige Leute noch besaßen.
"Ich glaube sie sind einfach schon daran gewöhnt, so wie wir wahrscheinlich schon nicht mehr richtig riechen können, wer am meisten Parfüm trägt", erwiderte sie mit einem leisen Laut, der an ein Kichern erinnerte, und strich mit ihren Händen einmal über ihr Kleid, blieb aber immer noch so neben ihm gekniet und blickte nachdenklich auf den Schlafplatz in sicherer Entfernung vor ihnen.
Harold biss sich kurz auf die Zunge.
Hatte er sie vor kurzem selbst auf ihr Parfüm reduziert, dass er aus der Entfernung hatte riechen können. Doch gerade in diesem Moment, in dem sie nicht einmal einen halben Meter von ihm entfernt war, nahm er keinen künstlichen Geruch wahr. Vielmehr umgab sie ein dezenter Duft, der ihn an die Vanille erinnerte, die seine Mutter als er ein Junge gewesen war in ihren Kuchen rieb.
"Ich glaube ich äußere mich dazu besser nicht, ich riskiere meine Stelle damit", gab er nun etwas vorsichtig zu verstehen. Auch wenn sein erster Eindruck von ihr so positiv war, konnte sie dennoch später zu jemandem gehen und davon berichten, dass sie einen unhöflichen Angestellten getroffen hatte. Mit einer kurzen Beschreibung seines Aussehens wäre der Übeltäter auch ohne einen Namen schon innerhalb kürzester Zeit gefasst.
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Das Grand Hotel
Historical FictionIm glanzvollen Jahr 1954 betritt Harold Shelby mit ehrgeizigen Träumen das legendäre 'Grand Hotel'. Ein Ort, an dem Hollywood-Größen ein und aus gehen, und jede Anstellung als ein Ritterschlag gilt. Doch zwischen den luxuriösen Kulissen lauert ein...