Es waren schon fünf Tage vergangen, seitdem er die Lucky Strike Schachtel von ihr bekommen hatte. Sie lag ungeöffnet in seiner Kommode und seither hatte er auch nicht mehr mit Jane gesprochen. Er hatte sie nicht einmal mehr wirklich zu Gesicht bekommen.
Er hatte nur verwundert festgestellt, dass sie jeden Abend mit ihrer Familie am selben Tisch saß und schweigend zu Abend aß.
Da inzwischen aber auch schon zu Harold durchgedrungen war, welche Gerüchte um Miss Beatrice die Runde machten und war es offensichtlich, dass die Brixtons nun eine makellose Familie mimten, um einen möglichen 'Skandal' abzuwenden. Ob das abendlich zu beobachtende Schauspiel dies jedoch vermochte, war nur schwierig einzuschätzen.
Dass Jane sich als Teil einer solchen Farce hergab, hatte er nicht erwartet und er war etwas enttäuscht darüber, obwohl sie ihm nichts schuldig war. Nur glaubte er, in ihr mehr erkannt zu haben als eine Marionette ihrer Familie, die sich für solche Spielchen benutzen ließ. Sie hatte so frei gewirkt, so ehrlich.
Man sah sie auch kaum noch draußen an der frischen Luft, die sonst so in sich einsog. Auch Thomas hatte geäußert, dass Jane sich wohl zurückgezogen habe und nur abends ihr Zimmer verließ. Thomas wusste das von Jenny, die manchmal bei ihr klopfte, um ihr ihre gesäuberte Wäsche zu bringen.
Harold schüttelte den Gedanken ab und nahm die Teller entgegen, die ihm angereicht wurden. Acht an der Zahl balancierte er auf seinen Händen und Unterarmen, um sie im Salon den Gästen anzureichen. Heute gab es wieder einmal verschiedene Menüs, die man im Kopf sortieren musste, bevor man an die Tische herantrat.
Er stieß die Tür zum Salon auf und tauchte sofort in dem lauten Geräuschpegel unter, schlängelte sich an Tischen und anderen Kellnern vorbei, um in den Bereich, für den er verantwortlich war, zu gelangen. Die Teller manövrierte er geschickt zur richtigen Person und nickte jedem Gast freundlichst zu.
Schon bei seinem ersten Gang zurück zur Küche, konnte er Jane ausfindig machen, schaute diskret in ihre Richtung, als versicherte er sich, dass es ihr gut ging, dass sie freiwillig dort saß. Auch heute saß sie wieder neben ihrer Schwester, die ausladend gestikulierte und pausenlos sprach.
Harold wusste, dass Jane wohl nur stumm nickte und das Essen abwartete, um gleich danach wieder aufzustehen, denn Stuhl zurechtzurücken und zu verschwinden.
"Etwas schneller, wenn ich bitten darf", ertönte sofort Miss Adele Stimme, als Harold wieder in der Küche war und die zweite Charge bekam. Er biss sich auf die Zunge, um jeglichen Laut zu unterdrücken und eine Respektlosigkeit zu vermeiden.
Man erwartete, dass mit doppeltem Tempo gearbeitet wurde, ohne aber hektisch zu wirken - etwas schier Unmögliches. Genau deshalb war Harold auch unbefangen und machte genau so weiter, wie er es bisher getan hatte. Nichts brächte ihn von seinen Prinzipien ab.
Dieses Mal sah Harold bewusst nicht in Janes Richtung und konzentrierte sich ausschließlich auf seine Arbeit, auf die er mehr angewiesen war als ihre Aufmerksamkeit. Seine Arbeit war es, die ihm dabei half, seiner Familie das Leben zu erleichtern. Ihm kam in den Sinn, dass er seiner Mutter noch antworten musste, das würde er spätestens morgen machen.
"Entschuldigung, könnten wir noch Weißwein bekommen?", unterbrach eine Dame ihn und er nickte. "Selbstverständlich, darf es wieder die Spätlese sein?"
Die Frau tippte kurz ihren Ehemann an und schon wenig später stand Harold mit der Flasche dieses zuckersüßen Weins wieder am Tisch, um ihnen auszuschenken. Wenn er nur an die extreme Süße dieser Sorte dachte, drehte sein Magen sich schon. Doch selbstverständlich konnte man seinem Gesicht diesen Gedanken nicht ansehen, sondern war nur von seinem sympathischen Lächeln eingenommen.
Als er das nächste Mal zu dem Tisch der Brixtons sah, war Jane auch schon verschwunden. Der Rest ihrer Familie redete unbeirrt weiter miteinander, als hätte sie nie mit ihnen dort gesessen.
Zu weiteren Beobachtungen kam Harold ab dann nicht mehr, da die Arbeit rief und er seine Gedanken lieber sortieren sollte, als sie im Kreis verlaufen zu lassen.
"Jetzt haben wir schon fast die zweite Woche geschafft." Thomas nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, bevor er sie auf den Boden war. Den Schalen gönnt er keinerlei Aufmerksamkeit, während sie nach ihrer gemeinsamen Schicht wieder einmal draußen standen.
"Die Zeit vergeht schneller als einem lieb ist", stimmte auch Harold zu und atmete ebenfalls das Nikotin ein, das es immer wieder schaffte, ihm mehr Energie zu liefern.
"Bevor ich hier war, habe ich beim Harrison's gearbeitet, da konnte ich kaum abwarten, dass die Saison vorbei war", lachte Thomas und auch Harold konnte es nachvollziehen.
Einerseits hatte Saison-Arbeit den Vorteil, dass man in dem Zeitraum, in dem man arbeitete, genug für einige Monate verdiente, aber andererseits könnte es sehr ermüdend und fahl sein. Man musste einen eisernen Willen beweisen, damit die Tage und Nächte nicht lang wurden und man auch am Ende die gleiche Motivation ausstrahlte wie am Anfang.
"Bei mir war das so, als ich im Bates Hotel gearbeitet habe", stimmte er noch zu und rieb sich mit dem Handrücken am Kinn. "Trotzdem wüsste ich nicht, was ich sonst arbeiten sollte", fügte er nach wenigen Momenten hinzu und auch Thomas stimmte zu.
Man musste schon ein komischer Vogel sein, um an solcher Arbeit Spaß zu haben, aber vermutlich waren sie genau das. Wer sonst wäre jedes Jahr aufs Neue bereit, sich Zeitverträge zu suchen, von denen man nicht wusste, ob man sie im nächsten Jahr verlängern konnte. Eine wirkliche Stabilität brachte ihr Beruf nicht in ihr Leben, ließ er schon kaum Platz für ein richtiges Privatleben.
"Ich bin aber immer wieder überrascht, dass Familien-Betriebe sich doch noch von anderen unterscheiden. Man sollte meinen heutzutage würde es sich endlich mal auspendeln."
"Ich glaube wenn mehrere Generationen einer Familie mit drinstecken, dann zählt das schon zu ihrer Geschichte. Und kaum eine Familie hält an so etwas nicht fest", mutmaßte Harold und drückte nun endlich auch seine Zigarette aus - aber in der Schale.
"Wahrscheinlich hast du Recht. Es wird aber auch immer schwerer, bei großen Ketten mitzuhalten. Ich habe gehört, dass in den nächsten Jahren eine aus den Staaten übersiedelt und einige Standorte baut."
"Dann wird es einen richtigen Kampf geben." Harold grinste schief und krempelte seine Ärmel hoch.
"Auf jeden Fall", stimmte Thomas zu und das war einer der wenigen Momente, in denen man froh sein konnte, nur Angestellter zu sein. Für sie ging es um rein gar nichts, da sie sich bei jedem Hotel bewerben konnten, falls das jetzige schließen musste. Die Besitzer des Hotels aber riskierten Kopf und Kragen, um sich über Wasser zu halten. Erst letztes Jahr hatte in der Zeitung gestanden, dass der ehemalige Besitzer eines recht bekannten Hotels, das in Familienbesitz gewesen war, sich erschossen hatte, nachdem er die Papiere unterschrieben hatte, die es seinem neuen Besitzer übertrugen.
Recht dramatisch, aber so war die Welt.
Vor nicht einmal zehn Jahren wollte man gar nicht erst daran denken, in irgendeinem Hotel zu übernachten, weil man nicht wusste, ob das Haus bei der Rückkehr noch an Ort und Stelle stand. Viele fielen den Fliegerbomben des zweiten Weltkriegs zum Opfer.
"Ich glaube das Grand hat eine gute Chance, es zu schaffen." Thomas blickte demonstrativ auf die Fassade, die sich vor ihnen erstreckte. "Wer weiß, nur die Zeit wird es verraten." Harold zuckte mit den Schultern.
Wenig später gingen sie gemeinsam wieder rein, um zu Bett zu gehen. Thomas machte irgendwelche aberwitzigen Bemerkungen, als sie geradewegs Bobbie in die Arme liefen. Bobbie war eigentlich ähnlich wie Miss Adele über ihnen gestellt, jedoch bekam man von ihm nicht viel mit, da er sich meistens direkt mit der Familie und deren Belangen beschäftigte und wohl weniger Spaß daran hatte, die Angestellten hin und her zu hetzen.
"Sie, Mister Shelby. Miss Brixton muss morgen in die Stadt, sie sind doch schon einmal gefahren, zumindest hat sie mir davon berichtet. Seien sie einfach um 10 Uhr beim Wagen, ich lasse ihn bereitstellen. Danke", sprach er sehr abgehakt und gehetzt, bevor mit seinen kurzen Beinen weiterdackelte. Er hatte nicht einmal eine Antwort abgewartet. Nicht, dass Harold eine Wahl gehabt hätte.
"Scheiße", flüsterte er alleine bei dem Gedanken daran, wieder Miss Beatrice wie ein Hund hinterherlaufen zu können und sich genau wie einer behandeln zu lassen. Thomas neben ihm lachte nur gehässig.
DU LIEST GERADE
Das Grand Hotel
Fiction HistoriqueIm glanzvollen Jahr 1954 betritt Harold Shelby mit ehrgeizigen Träumen das legendäre 'Grand Hotel'. Ein Ort, an dem Hollywood-Größen ein und aus gehen, und jede Anstellung als ein Ritterschlag gilt. Doch zwischen den luxuriösen Kulissen lauert ein...