11 Reiche Göre

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"Sie sieht gar nicht aus wie eine reiche Göre", kommentierte Jennifer mit einem leisen Flüstern, als sie noch immer so dastanden. Da sie zu den letzten gehörten, die gekommen waren, standen sie etwas verborgen am anderen Ende des Raums in der zweiten Reihe. Zwischen einigen Hinterköpfen war es ihnen dennoch möglich gewesen, das Geschehen zu überblicken.

Harolds gesamter Körper schien angespannt zu sein, als er so dastand und versuchte, sich nicht zu regen. Wieder einmal hatte ihm das Schicksal in die Karten gespielt und er wurde in eine Situation geworfen, in der er ihr - Jane, wie er zuvor gelernt hatte - begegnete. Er hatte sie sofort erkannt.

Auch wenn Mister Brixton in diesem Moment schon alle begrüßt hatte, war ihm sofort ins Auge gestochen, wie die schmale Silhouette hineingetreten war, beinahe wie ein Geist.

Die weite Bluse, wohl eher ein Hemd, hatte nicht ferner davon sein können, gebügelt zu sein, als sie so dastand und merkbar peinlich berührt neben ihren Vater trat. Warum bin ich nicht darauf gekommen, hatte er innerlich geflucht. Harold hielt seine Menschenkenntnis vielleicht nicht für bahnbrechend, aber dennoch hatte es im Bereich des Möglichen gelegen, aus allen Informationen zu schließen, dass sie in Verbindung mit der Brixton-Familie stand.

"Ich glaube sie ist keine", entgegnete nun Thomas und riss Harold aus seinen Gedanken. "Nicht wie Miss Beatrice", schob er sofort hinterher, seine Stimme kaum ein Flüstern. Harold fehlten die Worte und er konnte die beiden nur stumm ansehen, wie sie so sinnierten. Doch bevor die beiden weiter spekulieren konnten, wurden sie von einer Dame unterbrochen, die wohl noch einige Jahre älter als sie war. Ihre Haare waren stellenweise schon ergraut und an ihrer Kleidung konnte man erkennen, dass sie normalerweise in der Küche arbeitete.

"Wenn es in diesem Haus eine gute Seele gibt, dann ist das Miss Jane", flüsterte sie und musterte die drei von oben bis unten. Um ihre dunklen, treuen Augen verliefen kleine Fältchen, die ihr Alter offenbarten. "Das werden Sie auch noch lernen", fügte sie hinzu und drehte sich genauso schnell wieder um, wie sie es zuvor auch getan hatte.

Jennifer stand nun mit leicht geöffnetem Mund und hochroten Wangen da, während Thomas in sich hinein schmunzelte. Doch Harolds Blick war immer noch auf Jane gerichtet.

Jane, der Name passte zu ihr. Jane Brixton. Sie schien nicht wie Beatrice, ihre Schwester zu sein - zumindest sofern er es von seinen Begegnungen mit den Schwestern bewerten konnte.

Wer von beiden schlug dann wohl in der Familie aus der Art? So war es doch immer, unter Geschwistern gab es ein schwarzes Schaf - eine der wenigen Dinge, die wohl sämtliche Familien aus allen Schichten gemein hatten.

Harolds Augen wanderten über Janes Züge. Erst jetzt bemerkte er, dass ihre Wangen leicht gerötet waren - ihre wirren Haare hatten zuvor zu sehr davon abgelenkt. Harold wollte sich ganz und gar nicht eingestehen, wie konzentriert er diese Frau musterte.

Doch auch Jennifer und Thomas nahmen wahr, wie er mit leicht zugekniffenen Augen in ihre Richtung starrte. Welche Bedeutung es hatte, konnten sie nicht erkennen, da sein Gesichtsausdruck schwer zu deuten war. Dazu war die Fassade, die er üblicherweise wahrte, zu gut.

Langsam bildete sich eine kleine Menschentraube um Jane. Jeder, der sie kannte, schien sie begrüßen zu wollen und sich kurz mit ihr zu unterhalten. Auch die Frau, die gerade eben noch hinter ihnen gestanden hatte, stand inzwischen an ihrer Seite und lächelte beseelt, während Jane der kleinen Gruppe etwas zu erzählen schien.

Es waren doch noch einige im Treppenhaus, ein reges Hin und Her, sonst hätte man vielleicht annähernd verstehen können, worüber sie sich ausgelassen unterhielten. Harold redete sich ein, dass es irgendetwas Belangloses sein musste. Vielleicht hatte Jane nur aus reiner Höflichkeit ein Gespräch begonnen, aus dem sie jetzt nicht mehr herauskam. Noch dazu musste sie eine wunderbare Schauspielerin sein, die sich ihr eigentliches Desinteresse nicht anmerken ließ.

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