"Miss Adele erinnert mich eher an einen Drachen", warf Thomas in die knappe Konversation ein, die einige andere Angestellte am späten Abend vor der Tür führten. Denn auch heute war ihre eher griesgrämige Vorgesetzte wieder besonders kritisch gewesen und hatte an manchen sogar kritisiert, wie sie ihre Schuhe zugeknotet hatten.
"So große Schleifen gehören in den Zirkus und nicht hierher", hatte sie einem der jungen Männer hinterhergerufen, nachdem sie ihm schon einen leichten Schubser gegeben hatte, der den Armen sogar zum Taumeln gebracht hatte.
Natürlich war es für die Angestellten nicht gerade von Vorteil, so jemanden über sich gestellt zu haben, doch es gab wohl wenige Menschen, die ihre Arbeit derart ernst nahmen. Würde es jemals im Hotel einen Brand geben wäre sie wohl die letzte, die das Gebäude verließe. Oder sie ginge sogar wie ein Kapitän auf einem Schiff einfach in den Flammen unter.
"Was auch immer sie ist, ein Mensch fällt nicht darunter", meinte nun ein anderer sarkastisch und Harold gab sich nicht einmal Mühe, bei diesem Schwachsinn mitzuwirken. Heute war er nicht in Stimmung, sich bei diesen eher unlustigen Späßen mitreißen zu lassen. Selten war er das.
Diese Gespräche dienten als Ventil, um überschüssigen Druck und Gefühle abzulassen – zu mehr jedoch nicht. Mindestens so schlau war es, sich seinen Atem für weitaus wichtigere Dinge zu bewahren.
Also zog er viel lieber genüsslich an seiner Zigarette und schaute ins Leere, sah dabei immer nur wieder im Augenwinkel, wie Thomas sich vor Lachen krümmte und zwischendurch einen trockenen Huster hervorbrachte.
"Ich habe gehört, du hattest heute die Ehre, eine Aufgabe für Miss Jane zu erledigen", verwickelte ihn nun doch noch jemand ins Gespräch. Es war Alexander, auch Alex genannt, der seine Zigarette hinter sein Ohr gesteckt hatte. "Das wäre mir lieber gewesen als mich von diesem alten Mann aus Zimmer 203 wie einen Sklaven durch das halbe Hotel jagen zu lassen."
Harold zuckte mit den Schultern und senkte seinen Blick auf den Boden.
"Mir auch", stimmten zwei andere zu, deren Namen Harold nicht einmal bekannt waren. Auch Thomas neben ihm nickte schweigend. Sie beide wussten, dass jetzt entweder ein neues Thema eröffnet werden würde oder dass auch Miss Jane mit abschätzigen Kommentaren abgehandelt werden würde, die ein Mädchen wie sie nicht nur degradierten, sondern auch respektlos anfeindeten.
Da sowohl Harold als auch Thomas Miss Jane gegenüber eher wohlgesinnt waren, würden sie sich an einem solchen Gespräch aber definitiv nicht beteiligen. Es zu unterbinden, war jedoch keine Option, da es den anderen nur etwas lieferte, auf das sie sich beim nächsten Mal wieder zurückbesinnen konnten.
"Ich würde ihr sofort den Reisverschluss vom Kleid öffnen, sofern sie das nicht alleine kann", zuckte einer mit den Schultern und die anderen verfielen wieder in Gelächter. Nur anhand des Lachens konnte man als Außenstehender schon ausmachen, welche Art Gespräch hier gerade geführt wurde.
„ich würde ihr sogar dabei helfen, die Schuhe auszuziehen!", trumpfte ein weiterer von ihnen noch auf und spätestens da schaltete zumindest Harold einfach ab.
Die folgenden Kommentare ersparte Harold sich und stand kurz entschlossen auf, um seine abgebrannte Zigarette in einer der Schalen auszudrücken, die zwecks dessen aufgestellt worden waren.
Die ersten Tage standen sie dort noch nicht und es war allen aufgefallen, dass ohne sie am Ende des Sommers vermutlich die ganze Wiese voller abgebrannter Stellen sein würde.
Irgendjemand pfiff ihm noch hinterher, doch es war ihm in diesem Moment egal.
Normalerweise ließ er solche Dinge einfach an sich vorbeiziehen, da er der Überzeugung war, es nicht nötig zu haben, so über Menschen zu sprechen, die er nicht kannte. Sein Geplänkel mit Miss Jane heute Mittag war seines Erachtens etwas anderes gewesen. Sie hatten gemeinsam lachen können. Doch dies hier war nur ein primitiver Kampf darum, wer die taktlosesten Bemerkungen über sie machen konnte.
Bei dem Gedanken daran, dass jemand so über seine Mutter oder gar seine Schwester sprach, spürte er, wie es in ihm zu kochen begann.
Genauso kam ihm nun aber in den Sinn, wie er Miss Jane nachts hatte ansehen können, wie unwohl sie sich unter dem Blick dieser Männer auf dem Balkon gefühlt hatte. Er kannte sie kaum, doch konnte er sich vorstellen, dass sie oft einiges mehr über sich ergehen lassen musste, immer mit einem filigranen Lächeln auf den Lippen, um nicht ausladend zu wirken.
Mann sein war heutzutage immer noch einfacher, als die Gesellschaft es manchmal darstellte. Das Leben eines Mannes würde wohl niemals so schwer sein wie das einer Frau.
Harold wusste nach längerer Überlegung nicht so recht, ob er irgendwann einmal das klassische Leben eines Ehemanns leben würde, der genug verdienen musste, um seine Familie zu ernähren. War er heute noch beschäftigt, Teile seines Lohns an seine Mutter zu schicken.
Genauso wenig hatte er je eine Frau getroffen, mit der er sich hätte vorstellen können, eine Familie zu gründen, die ihm das alles wert wäre. Er wäre niemand, den es erfüllen würde, jeden Abend zuhause sehnlichst erwartet zu werden, das Essen dampfend auf dem Küchentisch und die Kinder bereits im Bett. Harold genoss die Gesellschaft anderer, ja auch die Gesellschaft von Frauen, aber am heimlichsten war ihm die eigene. Denn je weniger man sich mit sich selbst beschäftigen konnte desto weniger sollte man sich mit anderen Menschen abgeben. In diesem Prozess der Selbstfindung befand er sich nach wie vor.
Ehe er noch weiter abdriftete, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Ring zurückzugeben, oder ihn Miss Jane irgendwie unterzujubeln. Wäre heute doch die perfekte Möglichkeit gewesen, ihn einfach in ihrem Zimmer zu drapieren, sodass sie ihn dort liegen sehen würde und glauben konnte, ihn einfach nur fallen gelassen zu haben.
Er griff in seine Tasche und zog eine weitere Zigarette heraus - seine letzte für heute, wie er beschloss. Danach würde er in sein Zimmer gehen und sich versichern, dass der Ring Immer noch wohlbehütet zwischen seinen Sachen in der oberen Schublade der Holzkommode versteckt lag. Fände jemand anders ihn, könnte er wohl geradewegs zur nächsten Polizeistation fahren, oder besser noch, er würde höchstpersönlich dorthin begleitet werden.
Harold ging noch einige Meter, während er die letzten Züge seiner Zigarette genoss und förmlich in sich aufsog. Dabei ging er einen ähnlichen Weg wie mit Miss Jane und konnte wieder einmal nicht verhindern, dass er an sie dachte.
Auch nach ihrer Aussprache heute Mittag hatten es ihre Züge hin und wieder vor sein inneres Auge geschafft, beinahe auf eine Art, die ihn von der Arbeit ablenkte. Er konnte nicht sagen, was es war, aber er hatte sich unbewusst in stressigen Momenten an ihre sanfte Stimme erinnert und darin etwas innere Ruhe gefunden. Ob es ihr wohl auch so erging?
Harold schüttelte den Kopf, musste über seinen eigenen armseligen Gedanken lachen. Es war 1954, niemand, der halbwegs bei Trost war, verkaufte sich unter Wert. Er wusste zwar, dass er attraktiv war und viele Menschen allein mit seiner Präsenz einnehmen konnte, aber keine wie Miss Jane. Dafür waren Typen wie Marlon Brando da. Schauspieler, Sänger oder auch einfach nur glattgestriegelte Millionen-Erben, denen selbst die Klatschpresse hinterher zu kreischen schien.
Seiner Mutter würde er wohl die größte Freude bereiten, wenn er ihr am Ende des Sommers eines der Zimmermädchen vorstellte und verkündete, dass sie heiraten würden. Aber genau damit erreichte er wieder seine vorigen Gedanken, die dies für ihn ausschlossen.
Vielleicht war er doch jemand, der sein ganzes Leben alleinstehend blieb und dessen Lebensinhalt das Arbeiten war. Das war vielleicht auch gar nicht so schlecht und würde ihm einige Nerven ersparen. So konnte er sein Leben selbstbestimmt führen, ohne sich nach anderen richten zu müssen.
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Das Grand Hotel
Historical FictionIm glanzvollen Jahr 1954 betritt Harold Shelby mit ehrgeizigen Träumen das legendäre 'Grand Hotel'. Ein Ort, an dem Hollywood-Größen ein und aus gehen, und jede Anstellung als ein Ritterschlag gilt. Doch zwischen den luxuriösen Kulissen lauert ein...