Jane zeigte ihm schweigend den Weg. Ihre großen Schritte verloren sich dumpf in den etlichen Langen Teppichen, die sich über die gesamte Distanz erstreckte.
Natürlich gab es keinen Spiegel, sie wollte nur einen Grund haben unter vier Augen mit ihm zu sprechen, sich zu erklären. Sie konnte nicht so sein, diese Allüre, deren Opfer er geworden war, so stehen lassen. Sie wollte nicht enden wie Beatrice. Wie ihre Mutter.
Ihre Augen waren stets auf den Weg vor ihnen gerichtet und sie war froh, dass sie sonst niemandem begegneten. Ihr war nicht ihre Gesellschaft unangenehm, sondern das, was ein stiller Beobachter daraus machen würde.
Sie hörte die eher schweren Schritte stets hinter sich und wurde daran erinnert, wer ihr gerade zu ihrem Zimmer folgte. Wirklich ironisch.
Wie sie es nachher rechtfertigen sollte, falls er ohne Spiegel ihr Zimmer verließ und gesehen wurde, hatte sie nicht wirklich genauer durchdacht. Im Normalfall trieb sich aber auch außer ihr niemand in diesem Bereich herum. Erreichten sie ihr Zimmer, ohne gesehen zu würden, würde dies auch für seinen Rückweg gelten.
"Folgen Sie mir", meinte sie vor der letzten Tür, die sie durchschreiten mussten, um zu dem kleinen Abteil zu gelangen, in dem sich ihr Zimmer befand - der wohl einzige Ort, an dem man hier sicher sein konnte, dass man unbeobachtet war.
"Nach Ihnen", deutete sie und öffnete die Tür für ihn. Sie wich seinem Blick aus als er an ihr vorbeiging. Im Türrahmen waren sie sich nah, doch auch diesen Gedanken schüttelte Jane ab. Schließlich hatte sie schon in ihrer misslichen nächtlichen Lage auf ihm gelegen.
Nun wollte sie es nur schnellstmöglich hinter sich bringen und reinen Tisch machen.
Das Parkett gab unter seinen Schritten ein leises Knirschen von sich und Jane musste einmal tief durchatmen, bevor sie die Tür hinter ihnen zuziehen konnte. Ihre Augen blieben noch einige Wimpernschläge auf die Holzplatte gerichtet, bis sie sich mit einem Mal umdrehte.
"Es gibt keinen Spiegel."
Seine tiefe Stimme unterbrach ihren Versuch, sich ihm gegenüber bemerkbar zu machen. Doch seltsamerweise begrüßte sie seine nüchterne Feststellung, die das ganze wohl doch um einiges beschleunigen würde.
"Nein, den gibt es nicht", entgegnete sie ruhig und machte einen kleinen Schritt nach vorne in den Raum hinein. Sie und Harold trennten nur wenige Meter.
"Ich wollte nur mit Ihnen sprechen", fuhr sie fort und sah ihm direkt in seine Augen, die sie eher unbeeindruckt anfunkelten. Auch wenn sie etwas kleiner als er war, hatte sie eine Präsenz, die jegliche Größenunterschiede überdeckte. Ihre Haltung war gerade, aber nicht zu stolz und ihre Körpersprache schien eine einzige fließende Bewegung zu sein. Eine Bewegung ging über in die nächste, als wäre es komplett durchdacht.
Harold antwortete ihr nicht, seine Reaktion konnte Jane immer noch nicht deuten.
"Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Für mein Verhalten Ihnen gegenüber", konkretisierte sie sich und begann nun, ein wenig auf der Stelle herumzutreten. Im Gegensatz zu Harolds Schritten konnte man ihre aber kaum vernehmen. "Nichts hat mir das Recht gegeben, Sie so unmanierlich zu behandeln."
Sie drehte sich zu ihm und schaute ihm erneut direkt in die Augen. "Auch wenn Sie es vermutlich nicht glauben, bin ich nicht unmanierlich oder dreist. Oder wie auch immer man es nun nennen möchte."
"Warum glauben Sie, dass Sie sich mir gegenüber rechtfertigen müssen?", kam es nun doch rau von ihrem Gegenüber. Die grünen Augen trafen auf ihre und sie musste schlucken, bevor sie ihre Stimme wiederfand: "Nicht rechtfertigen, entschuldigen. Rechtfertigungen sind für Menschen, die ihr Fehlverhalten insgeheim nicht als solches ansehen. Eine ehrliche Entschuldigung gesteht einen eigenen Fehler ein. Ich sehe mein Verhalten als einen eindeutigen Fehltritt an."
Jane strich sich die zerzausten Haare erneut hinters Ohr, beschloss stumm für sich selbst, schnellstmöglich ein Bad zu nehmen.
"Sie verfolgen bestimmt beste Absichten, aber für ein kleines Wortgefecht müssen Sie sich wirklich nicht bei mir entschuldigen. Sie sind nicht die erste hier, die mir so begegnet ist, und werden auch nicht die letzte sein. Sowas gehört doch dazu." Der Mann sah sie mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck an und sie spürte, wie immer mehr Frustration sich in ihr anbahnte - und sie sie wie so oft in ihrem Leben einfach herunterschluckte.
"Darum geht es nicht. Ich möchte einfach, dass Sie wissen, dass Sie so etwas bei mir nicht zu befürchten haben. Auch wenn meine Schwester sich hier einiges erlaubt, tue ich das nicht. Ich bin jedem einzelnen hier dankbar, dass er hier ist, hier arbeitet und letzten Endes meine Familie ernährt. Ohne Sie wären wir nichts, deswegen sollten wir jeden einzelnen hier wertschätzen." Janes Stimme wurde von Wort zu Wort ruhiger, bis sie in einem zarten Piano sprach und jedem einzelnen Wort seine Bedeutung beizutragen wusste.
Jane wusste nicht, wie er ihre kleine Rede auffasste, ihr war nur wichtig, diese Sachen gesagt zu haben. Diese Dinge, die sich Menschen wie Beatrice wohl nie selbst eingestehen würden. Niemand, der es zu Wohlstand geschafft hat, hat diesen Weg ganz allein bestreiten können. Dieser "American Dream", wie sie es Übersee nannten, konnte niemals Leistung eines einzelnen sein.
Es war wie bei einem Boot. Auch dort gab es einen Kapitän, der ohne seine Offiziere und Matrosen nicht einen einzigen Sturm umsegeln könnte. Ganz allein konnte ein Kapitän nicht einmal den Anker lösen oder gar die Segel hissen.
Diese Tatsache führte Jane auch immer wieder die große Ungerechtigkeit vor Augen, mit der so viele Menschen leben mussten, die sich tagtäglich die Hände und Füße wund arbeiteten, nur um von anderen herablassend behandelt zu werden. Lohn dafür war am Ende des Monats ein ungenügendes Gehalt, das es nicht einmal erlaubte, etwas bei Seite zu legen und zu sparen.
„Glauben Sie, Sie können das Miss Adele noch näherbringen?"
Harold grinste vergnüglich, sodass sich seine ausgeprägten Lachfalten zeigten.
Auch Jane konnte nicht anders als gelöst zu schmunzeln.
„Ich glaube dieses Vorhaben könnte sich als äußerst heikel herausstellen. Sie hält gerne an ihren Vorstellungen fest", sprach sie gelassen und konnte sich das Grinsen nun wirklich nicht mehr unterdrücken.
„Dabei scheint Miss Adele doch stets mit dem Zeitgeist mitzugehen", spielte Harold darauf an, dass Miss Adele vermutlich einhundert Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt werden könnte und sich dort problemlos zurechtfinden würde.
„Das ist Ihnen schon jetzt aufgefallen? Bewundernswert." Jane widmete ihrem Gegenüber nun ein noch verhaltenes Kichern, das jeden Moment drohte unangemessen laut zu werden.
Sie machte sich nicht über Miss Adele lustig, wollte sie keineswegs demütigen. Doch eine Frau mit einem derartigen Charakter regte schon zu einem humorvollem Umgang mit ihr an. Diese Äußerungen brachte Jane auch Miss Adele gegenüber von Zeit zu Zeit – in einem etwas angemesseneren Rahmen natürlich.
Zu gerne hätte Jane sich weiter mit Harold unterhalten, doch sie musste sich in Erinnerung rufen, dass sie ihn gerade von der Arbeit abhielt und somit in Schwierigkeiten bringen konnte. Sie war vielleicht die Tochter des Hotelbesitzers, aber in Personal-Angelegenheiten standen Miss Adele und Bobbie weit über ihr. Sie genossen das volle Vertrauen ihres Vaters.
"Und jetzt erzählen Sie allen bitte, was für einen abscheulichen Geschmack meine Schwester bei ihrer Einrichtung hat und wie sie sich haben plagen müssen, um dieses Ungetüm aus meinem Zimmer zu schaffen." Mit einem aller letzten Lächeln entließ sie Harold und musste sich dabei erwischen, dass es auch nicht von ihren Lippen wich, als er schon längst nicht mehr da war.
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Das Grand Hotel
Ficción históricaIm glanzvollen Jahr 1954 betritt Harold Shelby mit ehrgeizigen Träumen das legendäre 'Grand Hotel'. Ein Ort, an dem Hollywood-Größen ein und aus gehen, und jede Anstellung als ein Ritterschlag gilt. Doch zwischen den luxuriösen Kulissen lauert ein...