"Vergessen Sie nicht, wer Sie sind", erinnerte Miss Adele Jane, als sie bis dahin schweigend in die Richtung des Büros von ihrem Vater marschierten.
Es war sie gewesen, die ihr heute Morgen einen derartigen Schrecken eingejagt hatte, dass sie sich am Badewasser verschluckt hatte. Sie hatte sich nicht einmal bedecken können, als sie ihr schon eine Standpauke gegeben hatte, wie zutiefst besorgt alle wegen ihr gewesen waren, nur um dann genauso zügig wieder zu verschwinden und Mister Brixton davon zu berichten.
Auf ihrem Weg nach draußen hatte sie sämtliche Türen offengelassen, Jane somit auf mehrere Arten mit einer Gänsehaut am ganzen Leib zurückgelassen.
Nächstes Mal musste sie unbedingt daran denken, ihre Zimmertür zuzusperren.
"Wie könnte ich", entgegnete sie und wusste sofort, warum Miss Adele sich genötigt fühlte, sie daran zu erinnern. Wer würde sie jemals nicht daran erinnern, dass in diesem Hotel vor einhundert Jahren die Zeit wohl stehen geblieben war und man anderen nicht auf Augenhöhe begegnen durfte.
Die Welt war im Wandel, dieser Ort hier nicht. Früher oder später würde ihm das zum Verhängnis werden.
Anderswo schafften Menschen es inzwischen, sich aus ihrer Armut hochzuarbeiten, sich selbst Besitz anzueignen und ihre Zukunft abzusichern. Dennoch gab es Orte wie diesen, dieses Hotel, das Menschen ein Preisschild anzuheften schien. Wer einen bestimmten Wert unterschritt wurde anders behandelt - schlechter behandelt.
Das war eine Ungerechtigkeit, die Jane bitter aufstieß, die sie von ganzem Herzen überwinden wollte und hoffentlich irgendwann auch würde. Schon lange versuchte sie ihrem Vater Anstöße zu geben, nur damit Beatrice oder Menschen wie Miss Adele kamen, um ihre Arbeit zunichtezumachen.
Denn Menschen wie sie waren die Gewinnenden in solchen Dingen.
"Ich glaube Ihr Vater möchte über Ihre Schwester sprechen, es reicht, wenn eine von Ihnen völlig am Rad dreht", flüsterte Miss Adele, damit niemand außer Jane ihre Worte hören konnte, als sie Richtung Büro abbogen. Miss Adeles Schritte waren zwar kurz, aber hektisch und Jane hatte beinahe Schwierigkeiten, ihr folgen zu können.
Jane musste kurz die Nase rümpfen und verstand nicht so recht, wovon genau sie sprach. Genauso schien sie Miss Adele anzusehen, diese meinte nur: "Ich glaube Ihr Vater wird Sie darüber unterrichten."
Keine Minute später stand Jane schon vor ihrem Vater, der an seinem Schreibtisch saß. Zu Beginn konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
"Papa", sagte sie nur und sah ihn fragend bis neugierig an. "Worum geht es?"
"Nicht um dein Verschwinden heute, es war ja nicht dein erstes...", murmelte eher vor sich hin. Sein Blick war noch immer auf diverse Papiere vor sich gerichtet, seine Ellbogen auf die Tischplatte gestützt. Es dauerte einen Moment bevor er sich einmal laut räusperte und fortfuhr: "Hast du irgendwelche Gerüchte mitbekommen?"
"Nein, warum sollte ich? Und von wem?" Jane blickte verdutzt rein und ging auf den Schreibtisch zu, setzte sich halb darauf, um ihren Vater von dort aus fragend anzusehen. Ihr Kleid rutschte ein Stück an ihren Oberschenkeln hoch und sie zupfte es artig zurecht.
"Irgendjemand unter uns hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Deine Schwester gestern Nacht mit Gregory Teck auf seinem Zimmer verschwunden sei." Er rieb sich die Schläfen und schob die Papiere vor sich bei Seite, sah sie schweigend an.
"Wer ist Gregory Teck?", wollte Jane nur wissen. Der Name kam ihr weder bekannt vor, noch glaubte sie, dass sie ihn kennen sollte.
Ganz abgesehen davon, klang diese Geschichte nicht nach etwas, das ihre Schwester tun würde - sie machte sich ja schon genug Sorgen um Janes Ruf, ihren eigenen würde sie wohl erst recht nicht 'beflecken' wollen - wie sie es nannte.
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Das Grand Hotel
Historische RomaneIm glanzvollen Jahr 1954 betritt Harold Shelby mit ehrgeizigen Träumen das legendäre 'Grand Hotel'. Ein Ort, an dem Hollywood-Größen ein und aus gehen, und jede Anstellung als ein Ritterschlag gilt. Doch zwischen den luxuriösen Kulissen lauert ein...