02 Bobbie

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"Miss Jane, Miss Jane." Eilige, kleine Schritte schallten durch den gesamten Stall, als der kleingewachsene, etwas korpulente Mann in Richtung der jungen Frau stolperte.

"Wie kann ich helfen, Bobbie?", erkundigte sich die hoch gewachsene, schmale Frau und sah ihn herausfordernd an. In ihrer Rechten die Zügel ihres schwarzen Wallachs.

"Ihr Vater möchte Sie sprechen", keuchte Bobbie, immer noch aus der Puste vom Laufen und hustete in seine Armbeuge.

"Das hat doch sicherlich Zeit, oder wie wichtig ist es?" Sie dachte an die unzähligen Male, die sie gerufen wurde, nur um sich mit ihrer Schwester Beatrice aussprechen zu müssen. Heute nicht, dachte sie sich und schwang sich grazil auf Lazlo, ihr Pferd.

"Es geht um die neuen Angestellten, Sie sollen sie auch begrüßen. Sie hatten heute ihren ersten Tag und sollen die Familie vor dem Abendessen kennenlernen."

"Ich?" Sie lachte ungläubig. "Das kann die hochachtungsvolle Hotel-Erbin Beatrice doch sicherlich genauso gut. Bobbie, wir wissen beide, dass meine große Schwester es eher präferiert, sich anzuschauen, über wen sie irgendwann einmal alles herrschen kann." Obwohl in ihren Worten sehr viel Wahrheit lag, durfte Bobbie es ihr nicht eingestehen - er war für beide Brixton-Schwestern gleichermaßen zuständig und musste allem Anschein nach zumindest beide gleichermaßen respektieren.

Auch wenn er es lieber mit Jane Brixton als mit ihrer Schwester zu tun hatte, durfte er dies wohl niemals aussprechen.

"Lazlo muss noch ein wenig ausgeritten werden. Ich komme nach - versprochen, Bobbie." Sie rutschte kurz auf dem Sattel zurecht und schaute ihn warmherzig aus ihren haselnussfarbenen Augen an. Die Sonnenstrahlen ließen ihren Blick beinahe golden wirken.

"Und den Weg zurück zum Hotel?", gab Bobbie sich dennoch nicht ganz zufrieden.

"Den finde ich auch allein, genauso wie ich auch hergekommen bin. Spazieren in der frischen Luft tut gut", erklärte sie und setzte sich, ohne weiter abzuwarten, mit Lazlo in Bewegung. Bobbie hatte sich seinem Schicksal schon hingegeben und eilte alsbald in Richtung des Pfades zum Hotel.

"Guter Junge", lobte sie ihn, sobald sie aus dem Stall herausgetrabt waren und er sie in Richtung Wald leitete.

Das hier war vermutlich der einzige Ort, an dem sie dem ewigen Champagner-Geplänker entfliehen konnte. Wo sie einfach die Geräusche der Natur in sich einsaugen konnte. Dem Rasseln der Blätter im Wind, statt dem Klirren der Gläser, und dem Gesang der Vögel, statt dem Gelächter der Gesellschaft, konnte sie hier lauschen.

"Los!" Sie und Lazlo bewegten sich nun im Galopp über den steinigen Waldweg. Die einzelnen Äste und Blätter, mischten sich im Vorbeireiten zu einem grün-braunen Gemälde, dessen sie sich nicht satt sehen konnte.

Sie ritten an Bobbie vorbei, der über den Weg schlurfte, sich aber nichtsdestotrotz sein Grinsen nicht verkneifen konnte.

Auch wenn er nur Angestellter war, konnte er Miss Jane nachempfinden. Während andere junge Frauen sich die Finger nach einem Tag im Grand Hotel leckten, war es für Miss Jane Alltag. Und je mehr etwas Alltag für einen ist, desto weniger würdigt man es, desto weiter möchte man davon weg.

Schon als sie volljährig geworden war, hatte er geglaubt, dass sie einmal über Nacht verschwinden würde, nicht mehr als eine Notiz hinterlassen würde. Doch das wollte sie vermutlich ihrem lieben Papa nicht antun.

Denn auch wenn Mister Brixton hart sein konnte, vor allem gegenüber seinem Personal, war Miss Jane seine Schwachstelle. Das Nesthäkchen erinnerte ihn wohl an sich selbst - so munkelte man. Denn auch er war einst eher unkonventionell gewesen, hatte seinen eigenen Kopf gehabt, und musste mit der Zeit in dieses Leben hineinwachsen. Leider hatte er keinen älteren Bruder oder eine ältere Schwester gehabt und war verpflichtet, sich diesem Hotel anzunehmen, wenn nicht Generationen an Arbeit im Nichts versanden sollten.

Das Grand HotelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt