Wenn nichts mehr geht

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Es war viertel nach zwei. Die Uhren heute schienen aus irgendeinem Grund besonders schnell zu laufen, doch so kurz nach der Mittagszeit, waren die Straßen so gut wie ausgestorben. Nur jemand mit Schichtarbeit kam jetzt nach Hause. Cassias Finger am Lenkrad ihres alten Skoda Fabia zitterten. Das war eine überaus dumme Idee, was sie gerade im Begriff war zu tun. Sie sollte auf der Stelle nach Hause fahren und nicht ihre gesamte, hart erarbeitete Existenz aufs Spiel setzen. Ihre Schicht war anstrengend gewesen und wegen einem erneuten Problem mit dem Kassenabschluss, war ihr kaum Zeit zum Umziehen geblieben, bevor sie den Laden fluchtartig verlassen hatte.

Nachdem sie Tom tatsächlich eine Nachricht geschrieben hatte, dass sie bereit war, über Bedingungen in seiner Angelegenheit zu reden, hatte er ihr geantwortet, dass sie in ein nahegelegenes Hotel fahren und dort am Empfang nach ihm fragen sollte. Er würde sie dann abholen kommen.
„Verdammter Bonze", knurrte die Schwarzhaarige angesäuert, als sie auf den Parkplatz fuhr. Das Hotel war weit unter dem, was Tom eigentlich an Unterkunft gewöhnt war, allerdings gab es hier nicht sonderlich viele Luxushotels. Sie parkte ihr Auto und lief in Richtung des Eingangs, stieß die Tür auf und fand sich inmitten einer schönen Eingangslobby wieder. Die Frau am Empfangstresen musterte sie abschätzig, bevor ihre Augen über Cassias abgetragenes Shirt und die verwaschene Jeans glitten, die hier und da schon zusammengenäht worden war. „Sie wünschen?", meinte sie hochnäsig, die Schwarzhaarige lächelte ebenso unfreundlich zurück.
„Ich soll nach einem Gast fragen. Er hat die Zimmernummer 483", zischte sie hervor, wobei sie sich noch immer sicher war, dass Tom dies mit voller Absicht getan hatte. Die Frau spitzte die Lippen und nickte leicht. „Ich rufe den Gast an. Ihr Name bitte?" „Cassia. Sagen Sie ihm, er soll auf dem Weg die Treppen runterfallen, dann könnten wir uns das auch sparen", erwiderte die Schwarzhaarige lieblich und die Frau am Tresen starrte sie verdutzt an. Dann wählte sie die Nummer des Zimmers, sagte Cassias Namen und legte weniger als zwanzig Sekunden später wieder auf. „Er wird gleich da sein."

Cassia nickte nur und entfernte sich ein paar Schritte vom Empfang, um sich in der Halle umzusehen. Der Zettel mit Bedingungen schien in ihrer Tasche Tonnen zu wiegen und sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie ihn heute schon herausgezogen und durchgelesen hatte.
Sie wartete nicht mal drei Minuten, da kam Tom die Treppen herunter. Sein dunkelblauer Hoodie, dessen Kapuze er aufgezogen hatte und die Sonnenbrille ließen ihn völlig unscheinbar aussehen und verdeckten sein Haar. Immerhin war er immer noch bekannt, auch wenn es ruhig um Tokio Hotel geworden war. Zumindest ruhiger als damals.

„Hallo Cassia", begrüßte Tom die Dunkelhaarige tonlos. „Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich auftauchst."
„Ist Bill hier?", fragte die Angesprochene nur und ihr Gegenüber nickte vorsichtig. „Er sagt, er will erst uns beide reden lassen, bevor er... er freut sich, dass er dich wiedersehen kann."
„Oh ja, ich hatte nach der Kontaktverbotsklage vor ein paar Jahren auch das Gefühl, dass er mich wirklich vermissen muss", gab Cassia zurück, deren Stimme vor Ironie triefte. „Wie geht es den anderen beiden?"
„Sehr gut...Gustav hat eine Frau und Kinder und Georg... naja, der ist immer noch derselbe, aber ich glaube, dass er mich noch mehr dafür hasst, wieder in dein Leben gekommen zu sein, als du." „Hm, das denke ich nicht", erwiderte Cassia süßlich. „Willst du hier weiterreden, denn dann komme ich gleich zur Sache."
„Nein", wimmelte Tom sofort ab. „Wir gehen hoch ins Hotelzimmer. Bill ist nebenan, keine Sorge. Er unterbricht uns nicht."
„Ich gehe nicht mit dir in das verdammte Zimmer, das dieselbe Nummer hat, wie eure damalige Tournee. Das war doch bestimmt volle Absicht", knurrte Cassia und er seufzte. „Schön, wohin möchtest du dann?"
„Gibt es in Hotels nicht immer genügend Sitzmöglichkeiten?", fragte die Schwarzhaarige und es dauerte ein paar Momente, bis Tom ergeben nickte. Er ging ohne ein Wort voraus und Cassia folgte ihm eine Treppe hinunter und in ein Untergeschoss, wo es neben einer Bühne mit Klavier, einer kleinen Bowlingbahn mit Zuschauerbänken und mehreren Billardtischen auch viele Sessel und Sofas gab.

„Hier ist mittags eigentlich nie jemand", sagte Tom vor ihr leise und setzte sich wahllos auf einen der Sessel. Cassia nahm ihm gegenüber Platz und betrachtete angespannt, wie er die Sonnenbrille abzog. Sofort waren da wieder seine Augen, die ihre fanden. Es war als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegreißen und wieder musste sie sich eingestehen, dass sie damals den schlimmsten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Tom war ihr bester Freund gewesen und daran hätte sich nie etwas ändern sollen. Sie hätten das nie anfangen dürfen.
„Hast du aufgeschrieben, was du möchtest?", begann dieser zu reden und sie nickte schwer, bevor sie in ihre Tasche griff und den abgegriffenen Zettel hervorzog. Sie faltete ihn auseinander und überflog ihre Punkte, wobei sie bei einem stehenblieb. Sie hatte hin und her überlegt, ob sie die Sache mit dem Sexverbot stehenlassen sollte oder nicht. Denn für Tom wäre das nichts anderes als eine indirekte Kriegserklärung.
„Was ist?", hörte sie seine Stimme. „Brauchst du einen Stift? Musst du ergänzen?"
„Nein", sagte Cassia plötzlich entschieden. „Nein, das passt so." Sie dachte darüber nach, ihm die Punkte vorzulesen, überlegte es sich dann aber anders und legte Tom das Papier hin. Der Gitarrist beugte sich vor und nahm den Zettel in die Hand.

Mehrere Minuten wurde es still zwischen den beiden. Tom las die ersten Punkte und schien wegen der Summen nicht ansatzweise entsetzt zu sein, wie Cassia wütend feststellte, dann jedoch weiteten sich seine Augen für einen Sekundenbruchteil. Sie wusste, bei welchem Punkt er angekommen war.

„Ich fürchte", begann Tom zu sprechen. „dass du mir einen Punkt erklären musst." „Nein", widersprach Cassia ruhig. „Muss ich nicht. Du sagtest, ich soll alles aufschreiben, was ich will."
„Warum?", fragte er und eine Gänsehaut legte sich auf die Arme der Schwarzhaarigen. Sie kannte diesen Tonfall. Tom war auf der Lauer. „Weil ich nicht gebrauchen kann, dass du fremdvögelst und ich am Ende dastehe, als ob du mich betrogen hättest. Für deinen Prozess wird das gar nicht gut aussehen."
Sie hatte ohne Nachdenken gesprochen, doch nun da sie es gesagt hatte, erschien das sogar plausibel. „Also nimmt dein Vater an?", fragte Tom und ein Funken Hoffnung war in seiner Stimme zu hören. Cassia grinste herablassend. „Er lässt ausrichten, man soll ihm alles dazu schicken, was du hast."
„Wird heute noch erledigt. Aber trotzdem, wieso dieser Punkt?", behaarte Tom leise. „Wenn du diese Angelegenheit nutzen willst, um es mir heimzuzahlen, Cassia-"
„Was dann?", fragte diese ebenso flüsternd. „Was willst du dann machen? Ein Wort zu viel und ich bin weg, dann kannst du dir eine neue Freundin suchen, die sich seit der Kindheit kennt und deren Vater einer der besten Anwälte der Welt ist. Viel Glück bei der Suche."
Sie wusste, dass sie ihn provozierte, doch es gefiel ihr, dass er nichts dagegen tun konnte. Auch Tom schien dieser Gedanke zu kommen, denn er biss die Zähne zusammen.

„Dann gilt dasselbe auch für dich", presste er hervor und Cassia riss verdattert die Augen auf. „Wie bitte?" „Dann gilt das auch für dich", wiederholte Tom gereizt und deutete auf den Zettel. „Du hast keine Forderungen an mich zu stellen, Tom Kaulitz!", wollte die Schwarzhaarige sich empören, da sah sie das Zucken seiner Mundwinkel. Der Bastard hatte ein Ass im Ärmel.
„Nur aus demselben Grund, denn du mir eben auch gesagt hast", meinte er scheinheilig. „Sie werden dich beobachten und wenn du mit einem anderen Mann gesehen wirst, dann wird das ebenso wenig hilfreich sein und wenn wir beide aus dieser Vereinbarung rauskommen wollen, dann müssen wir wohl zusammenarbeiten. Also..." Er lehnte sich zurück. „Für dich dieselbe Regel. Kein Sex."

Cassia funkelte ihn zornig an. Sie wusste, dass seine Begründung ebenso fadenscheinig war, wie ihre und er ihr damit nur diese Frechheit heimzahlte. Das war Tom. Er ließ nichts auf sich sitzen.
„Von mir aus", gab die Schwarzhaarige nach. „Aber der untere Punkt, den liest du dir am besten genaustens durch. Denn der ist mir mit am wichtigsten."
„Keine Lügen", las Tom ab und schluckte tief. „Cassia, wenn du eine Erklärung für das verlangst, was ich damals zu dir gesagt habe..."
„Das steht da nicht", unterbrach diese eiskalt. „Da steht, dass du mich nicht anlügen sollst. Haben wir uns verstanden?"
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er langsam nickte. „Gut. Ich nehme an, du willst das Geld immer im Voraus?" Diesmal war es an Cassia, die Zähne zusammenzubeißen. Sie wollte sein Geld nicht nehmen müssen, aber sie wusste genau, dass sie es mehr als dringend brauchte. Deswegen zischte sie ein dumpfes „Ja!", heraus, was Tom mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. Er schaute von dem Blatt hoch und Cassias Gesicht, diese spannte sich augenblicklich an. Trotz der vergangenen Jahre musste sie sich eingestehen, dass er noch immer ein attraktiver Mann war. Sein Körperbau war muskulöser, selbst der weite Pulli ließ die wahrscheinlichen Muskeln darunter nicht ganz verborgen und seine Haare waren zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden. Sein Piercing hatte er auch nach all den Jahren nie rausgenommen und diese verdammten Augen, mit denen er sie anschaute, waren ihr so vertraut, dass es unheimlich war. Er hatte sie schon auf so viele Arten gemustert. Leidenschaftlich, traurig, wütend, betroffen, verletzt und zuletzt angeekelt. Jetzt gerade wirkte er, als würde er versuchen, sie einzuschätzen. Seine Augen sagten so viel über ihn aus und darüber, welche Art von Mann er gerade war.

„Ich erkläre dir, wie das ablaufen soll", begann Tom langsam und Cassia erwischte sich dabei, wie sie den Blick abwandte, mit dem sie ihn gerade angestarrt hatte. „Für den Anfang reicht es, wenn wir hier und da zusammen gesehen werden, in ungefähr zwei Wochen wirst du mich dann auf die Party eines Freundes begleiten. Die Paparazzi in Los Angeles schaffen es immer irgendwie, Fotos von sowas zu machen und danach geht es so weiter."
„Ich werde meine Ausbildung schmeißen müssen, das ist dir schon bewusst, oder?", zischte Cassia und er schaute sie ausdruckslos an. „Dachtest du, wir machen das alles in Deutschland?"
„Nein, aber in Amerika habe ich keine Bleibe. Und danach stehe ich in Deutschland ohne Job da", meinte die Schwarzhaarige und dachte daran, wieso sie bei ihren Forderungen so verflucht nett gewesen war. Tom jedoch schien ihre Gedanken zu erraten, denn er zog einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und begann über das Blatt geneigt zu schreiben. Er drehte den Fetzen um und Cassia las, dass er zwei Punkte ergänzt hatte.
„Du besorgst mir einen Job?", fragte sie misstrauisch, Tom nickte ernst. „Einen guten Job. Und das darunter ist auch mein Ernst. Ich habe in Berlin eine Wohnung, die ich dir überschreiben kann. Ich zahle die Miete, bis du genug Geld verdienst, um sie selbst zu bezahlen. Und wenn es dich glücklich macht, zahle ich sie auch danach weiter."
„Tom, du gibst mir das Gefühl, als wäre ich genau das, als was du mich vor sieben Jahren bezeichnet hast", rutschte es Cassia heraus und sie zuckte erschrocken über ihre eigenen Worte zusammen. Tom wirkte mit einem Mal wachsam, doch er sagte nichts, bis Cassia sich gefangen hatte.
„Als wäre ich ein Kind, auf das man aufpassen muss, dass nichts alleine hinbekommt", wiederholte diese seine Worte von damals und sah, dass er den Kiefer anspannte. „Dass ich in meinem Leben sowieso nie annähernd an dich herankommen werde und froh sein sollte, dass du dich so lange mit mir abgegeben hast", redete Cassia weiter und plötzlich erkannte sie in seinen Augen etwas, das sie innehalten ließ. Es war Schmerz. Derselbe Schmerz, den sie beim Aussprechen dieser Worte empfand, lag einen Moment lang in Toms Augen. Nur konnte sie sich den Grund nicht erklären. Bereute er?

„Das hier hat nichts damit zu tun", zischte der Gitarrist schließlich. „Es gibt eine Vereinbarung und jeder erfüllt seinen Teil. Cassia, dir passt es vielleicht nicht, aber ich hab' das Geld. Und ich verlange viel von dir, daher nimm es verdammt nochmal einfach an und hör auf, dich ständig zu wehren, als würde ich verlangen, dass du mir deine Seele verkaufst."
„Genau das willst du aber... Ich wollte nie wieder von dir abhängig sein", gab die Schwarzhaarige zurück und biss sich auf die Zunge. „Und jetzt verkaufe ich mich buchstäblich an dich. Denkst du, ich habe keine Ahnung, was in den nächsten Wochen geschieht? Dass du dich mit Händchenhalten zufriedengibst? Es wird... du wirst alles wieder heraufbeschwören, Tom. Einfach alles wird wieder hochkochen und du willst mir nicht ernsthaft weißmachen, du wüsstest das nicht?"
„Wir sind beide erwachsen und nur weil wir als Paar auftreten und uns hier und da küssen oder berühren werden, ist noch lange nicht alles wieder wie früher", murmelte Tom irgendwann so leise, dass sie ihn fast nicht verstand. Cassia schluckte schmerzhaft. Er machte sich damit nur selbst etwas vor. Jenny hatte gestern lange mit ihr telefoniert und ihr tausendmal gesagt, dass sie sich darauf einstellen musste, Tom küssen und ihn berühren zu müssen. Es musste überzeugend sein und auch wenn Cassia sich für ihre Rechtschaffenheit hasste... trotz allem hatte Tom den Knast nicht verdient und obwohl es ihr egal sein müsste, war es das eben nicht. Und sie hasste sich dafür...

„Wir beide sind gefährlich füreinander", brachte Cassia hervor und Tom spannte sich an. „Mag sein", stimmte er zu. „Aber das Geld wirst du trotzdem nehmen, von meiner Seite aus ist damit die Sache geklärt. Sag mir, wann du abreisen kannst, und ich buche dir einen Flug."
„Tom-", begann Cassia, konnte jedoch nicht weitersprechen, da ein dicker Kloß in ihrem Hals war. Der Gitarrist schaute sie abwartend an und ein Spur Schrecken zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
„Cassia, du brauchst keine Angst zu haben", murmelte er und beugte sich in ihre Richtung. Damit erwischte er einen wunden Punkt. Die Schwarzhaarige lachte angespannt. „Du bist so ein verdammter Hurensohn! Wie du so tust, als hättest du damals nicht alles kaputt gemacht! Aber für dich ging das Leben nun mal weiter, du hattest ja keine Probleme."
„Doch allerdings", widersprach er hart. „Auch ich und die anderen haben an diesem Tag unsere beste Freundin verloren."
„Du-! Du hast mich vom Sicherheitsdienst abholen lassen! Weil du mich nicht mehr in deinem Leben haben wolltest! Verloren hast du mich nicht, ich wollte nicht fort von euch!", zischte Cassia und nun zog sich die Wut in Toms Augen zurück und wich der Ausdruckslosigkeit. „Stimmt. Das habe ich getan. Wolltest du hören, dass ich es zugebe?"
„Nein, ich will einen Grund", gab Cassia zurück und er versteifte sich. „Die habe ich dir gesagt."
„Ja. Ich hab' dir nur keinen einzigen deiner verfickten Gründe abgekauft."
„Das ist dann wohl dein Pech!", gab der Gitarrist zurück und sie merkte, dass er abblockte. Er würde ihr noch immer nicht sagen, was hinter alldem steckte. Scheiße, vielleicht würde sie das tatsächlich nie erfahren, aber so leicht aufgeben würde sie nicht.

„Können wir dann weitermachen? Du kannst dich gleich weiter aufregen, denn du wohnst bei mir im Haus", erklärte Tom weiter und unterbrach sich, als Cassia schnaubte. „Auf gar keinen Fall! Ich will einen Platz, an den ich gehen kann, ohne dich am gleichen Ort zu wissen."
„Der Punkt ist nicht verhandelbar, Cassia", erklärte er kalt, sie beugte sich vor. „Wieso soll ich so schnell bei dir einziehen? Manche Paare leben Jahre auseinander und du möchtest mich direkt zu dir ins Haus verfrachten?"
„Ich muss dir meine Beweggründe nicht erklären, du erklärst mir deine auch nicht", sagte Tom und zum ersten Mal war Wut in seiner Stimme zu hören. „Oder denkst du, ich nehme dir ab, dass dieses Sexverbot nur wegen des Prozesses auf diesen verfickten Zettel steht?"
„Wieso sollte es dort sonst stehen?", fragte Cassia scheinheilig und nun bemerkte sie, dass Tom etwas Gefährliches in ihr heraufbeschwor. Ihren Trotz, für den sie bei ihm schon das eine oder andere Mal die Konsequenzen getragen hatte. Tom hasste es, wenn man Spiele mit ihm trieb, obwohl er es liebte, seine Spiele mit anderen zu spielen.

„Lass mich eine Sache klarstellen", sagte der Gitarrist mit drohender Stimme, bei der der Schwarzhaarigen ein Schauer über den Rücken lief. „Das zwischen uns wird seinen Gang gehen und danach kehrt jeder wieder in sein Leben zurück. Ich halte mich an deine scheiß Liste, Cassia. Aber wenn du dich dazu entscheidest, mich herauszufordern, dann mach dich darauf gefasst, dass ich mich garantiert nicht von dir zum Narren halten lasse. Ich weiß, was du bezwecken willst, aber deine Provokation wird dir nicht das bringen, was du erwartest."
„Abwarten", wisperte Cassia zurück und ein unheimliches Glitzern trat in Toms Augen. „Lass dir gesagt sein, dass du mir nichts Heimzahlen musst, Kis. Du solltest mir eher dankbar sein."
„Erstens", fauchte die Schwarzhaarige zornig. „Ist das nicht mein Name! Und zweitens: dankbar sein wofür? Als bester Freund warst du ein Arsch, sonst hättest du mich nicht ausgenutzt."
„Ich habe nie etwas getan, was du nicht wolltest", stellte Tom klar und eine Warnung lag in seiner Stimme. „Unterstell mir nicht, ich hätte etwas gegen deinen Willen getan, Cassia! Im Gegenteil, ich erinnere mich genauso daran, wie du. An Dinge, die du wolltest und bei denen du dir auch nicht zu schade warst, sie dir zu holen. Und wenn ich eines weiß, dann dass dich diese Sache genauso angemacht hat, wie mich."
„Ich habe dir rein gar nichts unterstellt", zischte die Angesprochene unwillig. „Und das soll mich angemacht haben? Was genau, dein unbeholfenes Lecken mit der Zunge? Ich bitte dich, Kaulitz. Selbst mein Vibrator bringt mich besser zum Kommen als du."

Just in derselben Sekunde als sie es aussprach, wusste Cassia, dass sie gerade einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte soeben etwas gesagt, dass Tom auf einem Level angriff, dass nicht weniger als tödlich war. Fuck...

Sie rührte sich nicht vom Fleck, als Tom seinen Blick über sie gleiten ließ und das Funkeln in seinem Blick wechselte von wütend zu bedrohlich. Cassia musste sich erheblich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle das Weite zu suchen.
Die Schwarzhaarige fixierte den Tisch und weigerte sich aufzusehen als Tom aufstand. Langsam und bedacht wie ein Tiger auf der Jagd. Er kam um den kleinen Tisch herum und plötzlich stemmte er die Hände auf den Stuhllehnen des Sessels ab, seine Finger hielten Cassias Arme fest auf die Lehnen gepresst. Diese atmete hörbar zitternd ein. „Verpiss dich!", knurrte sie, doch ihre Stimme klang viel zu dünn.
„An deiner Stelle wäre ich damit verdammt vorsichtig", raunte Tom ihr dunkel zu. „Ich weiß, dass ich an deine Tür geklopft habe, aber diese Vereinbarung bedeutet nicht, dass ich mir von dir auf der Nase herumtanzen lasse."
„Du Ärmster, hab' ich etwa deinen Stolz getroffen, den du pflegst, wie einen Schatz?", fragte Cassia zurück, deren Arme sich unter seinem festen Griff verkrampften. Verdammt, er sollte das nicht in ihr auslösen können. Nicht so. Nicht nach allem, was passiert war.
„Na wenn das nur so läuft", murmelte Tom, doch es klang mehr, als hätte er das zu sich selbst gesagt. Er kam ihr noch näher. „Soll ich dich daran erinnern, wie schnell und heftig meine Zunge dich zum Kommen bringen kann?"

Cassia schnappte nach Luft. Das ging ganz entschieden viel zu weit und dennoch beschwor dieser Tonfall Erinnerungen herauf, die sie am liebsten vergessen würde. Dabei wusste sie genau, dass sie Tom bei vollem geistigem Verstand herausgefordert hatte. Die Liste war eine Sache. Ihre Worte eine ganz andere. Tom ließ sowas nicht auf sich sitzen. Niemals.
„Irgendwie ironisch, dass das der Mann zu mir sagt, der gerade einen Prozess am Hals hat. Ganz schön mutig von dir, mir damit zu drohen", gab sie stattdessen zurück und er lachte leise. „Du denkst, das war eine Drohung? Mach dich nicht lächerlich. Wir wissen beide verdammt nochmal sehr gut, dass es das nicht war. Und deswegen tätest du gut daran, dich an die Abmachung zu halten. Es ist nämlich nicht Teil unseres Deals, dass ich mir deine Frechheiten gefallen lasse."
„Ich spiele deine Freundin, das wird ein großes Opfer von mir erfordern", gab Cassia mutig zurück, die sich alle Mühe gab, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie verunsicherte. „Immerhin muss ich so tun, als wäre ich wahnhaft in dich verliebt, wobei ich dir am liebsten deine heiß geliebten Gitarren einzeln zwischen die Beine hauen würde. Lass mir diesen Spaß."
„Schön, dann komm aber auch damit klar, dass ich dir jeden dieser Sätze heimzahlen werde", knurrte Tom leise. „Denn davon steht nichts auf deinem scheiß Zettel und tut mir leid, die Nachtragsfrist ist eben abgelaufen."
„Vielleicht habe ich es mir ja anders überlegt", meinte die Schwarzhaarige nachdenklich. Toms Atem streife ihre Wange. „Hast du nicht", meinte er mit einer Spur Triumpf in der Stimme. „Weil du das auf diesem Zettel willst und du kennst meine Forderung. Also sei meine Freundin und sorg dafür, dass dein Vater beim Prozess erscheint und das wars. Mehr verlange ich nicht, Cassia. Wenn du dir in den Kopf gesetzt hast, dass du mich jetzt jeden Tag dieses Deals reizen kannst, dann fürchte ich, muss ich deine Hoffnung zerstören. Was das angeht, habe ich die Kontrolle."
„Dann such dir eine andere Freundin", schlug die Schwarzhaarige vor und kicherte im selben Moment. „Ach warte, geht ja nicht. Also musst du es dir wohl gefallen lassen, Schatz. Denn andernfalls könnte mir ja vor Gericht rausrutschen, dass ich das Gefühl von deiner Hand an meiner Kehle nur zu gut kenne."

Cassia erkannte, dass sie zu weit ging und vor wenigen Jahren hätte sie für diese Frechheiten gewiss auf eine Weise bezahlt, bei der am nächsten Morgen ihre Kehle vom Schreien und Flehen wund gewesen wäre. Doch Tom wusste, dass er sie nicht anrühren konnte. Und die Tatsache, dass er im gleichen Moment daran dachte, ließ sie unterdrückt grinsen. Dann jedoch verging ihr das Lachen als der Gitarrist ihre Unaufmerksamkeit ausnutzte und sich bewegte. Seine Hände, die ihre Arme auf den Lehnen festhielten, blieben wo sie waren, aber sein Oberkörper rutschte weiter nach vorne und plötzlich drängte sich sein Knie zwischen ihre Beine und drückte diese ein wenig auseinander.
„Tom, untersteh dich-", zischte die Schwarzhaarige und spürte ihr Herz panisch schlagen. Sie lehnte sich so weit zurück, wie es in dieser Position nötig war, doch Tom hielt sie so fest, dass sie sich fast keinen Zentimeter bewegen konnte.

„Hast du noch deine Schublade?", fragte der Gitarrist fordernd und sie spürte seinen Atem, so nah war er plötzlich. Wenn sie den Blick hob, würden sie sich direkt ansehen. Cassia schloss eine Sekunde die Augen. Dieser verdammte Dreckskerl.
„Natürlich. Wieso fragst du?", gab sie ebenso dreist zurück und wagte es, hochzusehen. Tom war nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt und blickte sie drohend an. „Weil du sie brauchen wirst, deine Spielsachen", grinste er dreckig. „Nimm sie mit nach Los Angeles, denn ich werde dafür nicht zur Verfügung stehen. Du kannst mich provozieren, wenn dich das scharf macht, aber ich habe leider absolut kein Interesse."

Diesmal ging die Schwarzhaarige in den Angriffsmodus, richtete sich ein wenig auf und war ihm damit so nah, dass sie sein Aftershave riechen konnte. „Lügner", hauchte sie ihm zu und sah mit Genugtuung, dass er die Zähne zusammenbiss. Sie bewegten sich am Rande einer Klippe und jeder versuchte, den anderen hinabzustoßen.
„Ich hätte dich damals ficken sollen", raunte Tom Cassia plötzlich zu. „Dann wäre es diese ganze Scheiße wenigstens wert gewesen."

Das saß.
Die Schwarzhaarige spürte, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und trotzdem war ihr bewusst, dass sie das selbst zu verantworten hatte. Wieso war sie auch davon ausgegangen, Tom würde sie nicht auch unter der Gürtellinie angreifen.
Dieser wirkte jedoch einen Moment lang so als würde ihm gerade erst bewusstwerden, was er gesagt hatte. Doch er entschuldigte sich nicht. Ebenso wenig wie sie.

„Also deine Bedingungen werden erfüllt", knurrte der Gitarrist schließlich. „Das Geld, die Wohnung für deine Schwester und die Sache mit dem Jugendamt regle ich auch. Was dich angeht, du schreibst mir dein nächstmögliches Abreisedatum und ich dir die Flugdaten. Wir sehen uns in LA." Damit ließ er sie los und brachte Abstand zwischen sie. Cassias Atem ging flach und ihre Beine zitterten.
Tom blickte von oben auf sie herab und schluckte hart. Er hatte es nie haben können, wenn Frauen weinerlich wurden und so war die Schwarzhaarige eigentlich auch nicht. Wenige Dinge auf der Welt brachten sie zum Weinen und der Mistkerl hatte es alleine schon viel zu oft geschafft.

„Du hättest es tun sollen", stimmte Cassia Tom zu und stand ebenfalls auf. Er war einen Kopf größer als sie und durch sein dichtes Stehen bei ihrem Sessel, berührten sich ihre Oberkörper einen Moment lang. „Du hättest mich ficken sollen", wiederholte die Schwarzhaarige ein wenig leiser und im Gesicht ihres Gegenübers zuckte ein Muskel. „Cassia, ich warne dich", zischte er. „Halt deine verdammte Klappe oder ich entscheide mich, dass ich mitspiele und glaub mir, dass willst du nicht."
„Du wirst dich hüten, mich auch nur falsch anzufassen. Du brauchst mich mehr als ich dich", sagte Cassia überzeugt. „Schön, vielleicht brauche ich dein Geld, um aus der Scheiße rauszukommen, die ich mein Leben nenne, aber erstens können wir nicht alle Rockstars sein und zweitens solltest du nie vergessen, dass du deinen Anteil daran hast, dass mein Leben heute so ist. Obwohl ich damals diejenige war, die dafür gesorgt hat, dass ihr auf dem Schulhof weniger Prügel einsteckt, weil mein Vater ein Anwalt ist, hast du dich dafür entschieden, mir das Messer in die Brust zu stoßen. Daher hast du recht, Tom. Du hättest mich damals ficken sollen, denn dann hätte ich den endgültigen Beweis für das, was ich von Anfang an dachte." Sie war ihm mittlerweile so nah, dass sie die dunklen Sprenkel in seinen braunen Augen sehen konnte. „Nämlich, dass du es einfach nicht draufhast, egal was du tust", raunte sie dem Gitarristen zu und Tom atmete geräuschvoll aus.

„Verschwinde", zischte er angespannt, sein ganzer Körper bebte. „Verschwinde, bevor ich dich tatsächlich hier und jetzt auf diesem Tisch nehme."
„Nur zu", gab die Schwarzhaarige zurück. „Dann könnte ich mich deinen Klägerinnen direkt anschließen."
„Herrgott, was willst du denn noch?", fragte Tom zornig. „Erwartest du, dass ich dich anflehe? Ich weiß, dass ich deinen Hass verdiene, Kis. Aber du verstehst nicht mal im Geringsten, was damals los war, also hau einfach ab und lass es gut sein."
„Was ich will?", wiederholte Cassia seine Frage und tat nachdenklich, bevor sie einen Schritt zur Seite machte und ihre Handtasche vom Boden aufhob. Als sie sich wieder aufrichtete und ihre Blicke sich begegneten, war sie sicher, dass Tom in ihren Augen etwas suchte. Doch er fand es nicht.

„Ich will, dass du leidest, wie ich gelitten habe, Tom", flüsterte Cassia endlich und wusste, dass der Teufel in ihr gewonnen hatte. „Und das wirst du. Und das Beste daran ist... du hast mich zurückgeholt und bist an allen selbst schuld."
Es war nicht Cassia, die vor Tom stand. Die Frau, die irgendwann während dieses Gesprächs, irgendwann inmitten der hitzigen Unterhaltung das Ruder an sich gerissen hatte, um die gute, naive und liebenswerte Cassia zu schützen, das war eine andere.
Diese Frau war Kis.

Stereo HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt