Der letzte Tag

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Es dauerte lange, bis dieser Tag vorüber war. Nachdem Cassia mit ihrer Aussage fertig war, wurde Bill hereinzitiert, danach Gustav und zum Schluss Georg. Sie alle sagten dasselbe. Dass Tom niemals gegenüber Frauen oder überhaupt gewalttätig wurde und was sie hinter Jessicas und Addisons Anschuldigung vermuteten. Außerdem wurde ein Beweisstück gezeigt, in dem die beiden Frauen über WhatsApp detailliert planten, was sie mit dem Schmerzensgeld machen würden, wenn der Prozess vorbei war. Auch diese Chats waren aus einer Gruppe und es befriedigte Cassia zutiefst, dass jemand aus ihrem nächsten Bekanntenkreis die beiden anschwärzte. Wahrscheinlich waren sie sicher gewesen, dass Tom nur verlieren konnte, weil er ein Mann und ein Promi war und sie sich als schwache, wehrlose Frauen hingestellt hatten. Was bewies, dass manche Menschen vor keiner Tat zurückschrecken, um Aufmerksamkeit und Geld zu bekommen.

Nach der Anhörung zogen sich alle in ihre Räume abseits des Gerichtssaals zurück und dort herrschte angespanntes Schweigen. Cassia lief im Raum hin und her, während die anderen saßen. Bill zupfte an seinen Fingern herum, Gustav schrieb an seinem Handy und Georg wippte mit dem Bein. Einzig Tom saß reglos da und starrte die Tür an, als würde jeden Moment der Teufel persönlich hereinplatzen.

„Cassia", ertönte Bills Stimme, die Schwarzhaarige drehte sich um.
„Hm?" „Hör auf mit diesem Herumrennen, das macht mich ganz verrückt", erklärte Bill angespannt und lehnte sich zurück. „Wieso brauchen die so lange?"
„Sie beraten sich mit der Jury und dann... werden wir hören, was die zu sagen haben. Das kann Stunden dauern", erklärte Cassia leise, die von ihrem Vater wusste, wie lange so eine Anhörung sich ziehen konnte. Die Anwälte waren alle in einem separaten Raum und trugen alle Akten und Beweise zusammen, um sie dann gesamt vorzulegen. Auch das würde dauern. Sie konnten wahrscheinlich froh sein, wenn heute noch ein Urteil kam und das nicht auf die nächsten Tage verschoben wurde. Die Schwarzhaarige wusste, dass Tom dann einem Nervenzusammenbruch nah wäre und das war er jetzt schon. In seinen Augen lag Spannung und Angst, jedoch auch ein Funken Hoffnung. Diese Hoffnung war Grund genug für Cassia, den Glauben nicht zu verlieren.
Als ihr Handy klingelte, zuckten alle zusammen. Die Dunkelhaarige schaute auf den Bildschirm. „Elisa", murmelte sie und schaute in die Runde. „Was dagegen, wenn ich rangehe?"
„Nein, aber bitte draußen", murmelte Georg nur und Cassia klopfte an die Tür, während sie ranging. „Elisa, ich bin sofort da."
Ein missmutig dreinschauender Mann öffnete ihr. „Was ist los?", brummte er nur und Cassia deutete auf ihr Handy. „Darf ich kurz telefonieren?"
Er dachte nach und musterte sie skeptisch. „Zwei Minuten", stimmte er schließlich zu. „Und bleib im Gang."

Cassia nickte sofort und schob sich an ihm vorbei, ging einige Schritte davon und hielt sich das Handy ans Ohr.
„Jetzt bin ich da."
„Cassia, es gibt Neuigkeiten", brabbelte Elisa sofort los und klang dabei derart euphorisch, wie die Schwarzhaarige es noch nie gehört hatte. „Wieso, was ist los?", wollte sie wissen, ihre Schwester stieß ein Quietschen aus. „Dein Vater hat mich doch an dieser Universität eingeschrieben, was wirklich toll ist, ehrlich. Aber ich durfte ja auch eine seiner Wohnungen in Frankreich beziehen und die wäre für zwei auch groß genug. Was sagst du? Schwestern-WG? Ich verspreche dir auch, dass ich deine Süßigkeiten nicht anrühre."

Eine Weile wurde es sehr still zwischen den Schwestern, während Cassia immer wieder etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte dafür fand. Plötzlich platzte sie heraus: „Er hat gesagt, er liebt mich."
Elisas Atem stockte kurz, dann seufzte sie. „Wo bist du?"
„Wo ich-... die Anhörung vor Gericht ist heute", erzählte Cassia leise. „Wir haben gerade eine Pause und warten, bis uns die Anwälte darüber aufklären, was Sache ist. Wenn es gut läuft, ist Tom heute Abend von jeder Schuld befreit."
„Was bedeutet", meinte Elisa spitz. „dass du nach Hause kommen könntest. Aber das willst du gar nicht mehr, so lautet zumindest meine Schlussfolgerung."
„Elisa", begann die Schwarzhaarige mit einem harten Schlucken. „Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst. Aber da ist etwas. Tom und ich haben die letzten Wochen so viel Zeit miteinander verbracht und wenn auch Dinge passiert sind, an denen ich bestimmt nicht unschuldig war... ich glaube, diesmal könnte es funktionieren."
Cassia wusste nicht, wieso sie Elisa nicht von dem Gespräch mit Georg erzählte. Vielleicht um ihr nicht einen weiteren Beweis zu liefern, wie krank das alles war. Das matte Lachen ihrer Schwester ertönte auf der anderen Seite des Hörers. „Cassia, du bist keine zwei Monate dort und der Kerl hat dich voll in der Tasche. Weißt du noch, was er getan hat? Wie er dir wehgetan hat? Du hast mir das mit Georg erzählt, dass er dich geliebt hat und so weiter. Und nur weil Tom jetzt sagt, dass er dich liebt, schmeißt du alles hin und planst direkt eine Hochzeit?"
„Ich plane gar nichts", unterbrach Cassia sofort. „Ich weiß auch, dass er mir wehgetan hat, aber mittlerweile glaube ich, was die anderen sagen. Dass Tom einen Fehler gemacht hat und es auch weiß. Er will es diesmal richtig machen."
„Und hast du darüber nachgedacht, was geschieht, wenn es nicht funktioniert?", fragte Elisa leise. „Ich möchte dir nichts ausreden, du musst das selbst wissen. Aber wenn es nicht funktioniert, wirst du erneut mit gebrochenem Herzen heimkommen."
„Es ist ein Risiko, ja", gab die Schwarzhaarige zu und sah den genervten Ausdruck des Polizisten, der immer wieder herüberschaute und sich wohl fragte, wieso er ihr den Anruf gewährt hatte. „Aber ich muss rausfinden, was das zwischen Tom und mir ist", redete sie weiter. „Ich will bei ihm sein, Elisa."

Dieses Geständnis war sehr gefährlich, dass wussten sie beide. Elisa brauchte eine Weile, bis sie die Worte verdaut hatte, als sie sprach, war ihre Stimme jedoch vollkommen ruhig. „Ich wusste immer, dass du diesen Kerl liebst. Aus welchem Grund auch immer... aber ich höre, dass du Angst hast."
„Natürlich habe ich Angst", nuschelte Cassia mehr zu sich selbst. „Ich wäre dumm, wenn ich keine hätte. Immerhin habe ich in Los Angeles gar nichts. Aber ich darf bei den Zwillingen wohnen und... sie besorgen mir auch eine Arbeit. Ich glaube ihnen, dass sie diesmal helfen möchten und Widergutmachung leisten... aber natürlich habe ich Angst, dass es scheitert." Cassia holte Luft und griff sich an den Hals. „Ehrlich gesagt denke ich seit Tagen nur noch daran, was für eine Angst ich habe, wenn der Tag heute vorbei ist. Was dann passieren wird und was Tom sagen wird. Die Wahrheit weiß ich ja schon."
„Es gibt zwei Möglichkeiten", murmelte Elisa zwiegespalten. „Erstens: er sagt dir nochmal, dass er dich liebt und was für ein Arsch er war, dass er dich bei sich haben möchte und will, dass du in Amerika bleibst... oder die zweite Möglichkeit... er zieht zurück, weil er Angst vor seinen eigenen Gefühlen hat und lässt dich sitzen."
„Du bist nicht sonderlich hilfreich, weißt du das?", fragte Cassia ungehalten, Elisa lachte traurig. „Ich sage nur, was möglich ist. Ich weiß, wie du damals nach Hause gekommen bist, wie fertig du warst und verletzt. Ich würde alles tun, um dir das zu ersparen. Aber wenn du ihm diese Chance geben willst... dann wünsche ich dir von Herzen, dass es so ausgeht, wie du es dir erhoffst."
„Danke Elisa", murmelte Cassia leise. „Ich melde mich wieder, ja? Ich muss rein, sonst werde ich am Ende noch verhaftet."
„Das wäre es doch", brummte ihre Schwester, jedoch mit belustigtem Unterton. „Freundin von Tom Kaulitz bei Anhörung verhaftet."
„Schön, dass dich das amüsiert", grummelte Cassia zurück, bevor sie sich verabschiedete und auflegte. Der Polizist sagte nichts, war ihr nur einen gereizten Blick zu, als er die Tür öffnete und sie zur Band zurückkehrte.

So vergingen Stunden. Nach der vierten Stunde fragte Bill bei den Anwälten nach, ob es schon Neuigkeiten gäbe, was verneint wurde. Inzwischen war es schon später Nachmittag und die Nerven waren überstrapaziert. Georg und Bill stritten sich wegen des Herabfallens eines Kugelschreibers, Tom war irgendwann dazu übergegangen, sich die Ohren zuzuhalten und ins Leere zu starren, Cassia schaute Gustav beim Candy Crush spielen zu, wobei sie minütlich auf die Uhr blickte.
Nach fast sechs Stunden, klopfte es schließlich an der Tür und alle fuhren von den Stühlen hoch. Bill trat an die Seite seines Bruders und legte ihm eine Hand auf die Schulter, wie um ihm Halt zu geben. Tom war leichenblass, als die Tür aufging und die Anwälte der Band eintraten, Cassias Vater vorneweg. Er hatte einen undefinierbaren Gesichtsausdruck aufgesetzt und schaute in die Runde.

„Es ist entschieden", begann Cassias Vater zu sprechen. „Die Jury hat die Klage abgewiesen. Wir können selbst entscheiden, ob wir eine Gegenklage wegen Rufmord einlegen, was ich aber lassen würde. Am besten wäre es, der Fall wird begraben und wir schüren nicht unnötig das Feuer."
Er schaute sich um und da niemand reagierte, runzelte er die Stirn. Cassia griff neben sich und ihre Hand ergriff die von Tom.
„Das bedeutet", redete Nino Curie weiter. „Dass wir gewonnen haben."

Zwei Sekunden passierte nichts, dann rollte die Erkenntnis wie eine Welle heran. Cassia wurde schlagartig leichter ums Herz, sie schlug die Hand vor den Mund und schrie los. Georg sank auf seinen Stuhl, ein erleichtertes Lächeln zierte sein Gesicht. Gustav, wie immer ruhig und besonnen, aber auch strahlend, schüttelte den Anwälten nacheinander die Hand und bedankte sich, während Tom seinen Bruder umarmte. Bill war sichtlich den Tränen nah, als er sich aus der Umarmung löste und Cassia anlächelte.
„Danke", meinte er aufrichtig. „Für alles."
Die Schwarzhaarige nickte mit Tränen in den Augen und der Sänger legte die Arme um sie, um sie an seine Brust zu drücken. Cassia spürte ihre Erleichterung deutlich, ihr ganzer Körper zitterte.

Er war frei. Toms Unschuld war bewiesen und damit ihre Aufgabe erfüllt. Sie hatte ihm geholfen und trotz aller Zweifel und all den Erlebnissen, freute sie sich unglaublich für ihn.
Ein vernehmliches Räuspern veranlasste Bill dazu, die Dunkelhaarige loszulassen und zur Seite zu treten. Ein weiteres Paar brauner Augen fixierte Cassia, die sofort eine angenehme Wärme in ihrer Brust spürte.
„Ich danke dir", flüsterte Tom so leise, dass die anderen, die bereits feierten, ihn nicht hören konnten. „Du warst fantastisch da draußen und ich verdanke dir, dass wir hier stehen und gewonnen haben." „Unsinn, das verdankst du auch deinen Anwälten und-"
Cassias Satz wurde jäh unterbrochen, als Tom vortrat, seine Hände an ihre Wangen legte und sie leidenschaftlich küsste. Es war ein Kuss voller Dankbarkeit, Erleichterung und Freude. Cassia schmeckte ihn auf ihrer Zunge und fühlte sich wie berauscht von dem Gefühl, das er ihr gab.
Tom löste sich von ihr und lächelte. „Wir müssen feiern", meinte er überschwänglich, die Schwarzhaarige strich sich die Haare zurück. „Ich bin ehrlich gesagt völlig erledigt", meinte sie lachend und streckte die steifen Muskeln. Die Befreiung machte allen schlagartig gute Laune.
„Erstmal gehen wir etwas essen", mischte Bill sich ein, Cassia trat auf ihren Vater zu und bedankte sich aufrichtig für seine Hilfe. Immerhin war er einer der besten Anwälte, die man mit Geld kaufen konnte und sie hatte von Gustav beiläufig erfahren, dass er der Band seinen Einsatz nicht in Rechnung stellte, sondern dass alles frei machte. Was für seine Verhältnisse eine große Geste an seine Tochter war, wie Cassia fand, denn eigentlich waren sie selten gut miteinander ausgekommen. Doch mittlerweile glaubte sie, dass der Fall sie alle verändert hatte.
„Also zuerst essen und dann fahren wir nach Hause und feiern", meinte Tom entschieden und Cassia spürte, wie er ihre Hand ergriff. Im selben Moment biss sie sich unsicher auf die Lippen. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte mit ihm alleine reden können, doch natürlich galt es zuerst, den Sieg zu feiern. Zum Reden hätten sie danach noch Zeit, sagte sie sich. Nur wusste sie nicht, ob diese Zeit dafür sorgen würde, dass ihre Unsicherheit weniger wurde. Sollte sie zurück nach Deutschland und über alles nachdenken? Sich die Zeit geben und erstmal ankommen, nach allem, was sie erlebt hatte? Ihren neuen Beruf zuerst kennenlernen, bevor sie ihn wieder aufgab und gar nicht wusste, ob Tom und sie eine Zukunft hatten?
Sie stand an einer Kreuzung und jede Richtung schien ihr zuzuschreien, dass sie sich entscheiden musste. Aber womöglich... hatte ihr Herz sich schon entschieden.

~~~~*

Am nächsten Morgen erwachte Cassia sehr früh. Es wurde gerade erst hell, die ersten Sonnenstrahlen schlichen sich durchs Fenster und sie drehte sich verschlafen um. Ihr Magen rumorte und sie fühlte sich schrecklich. Die halbe Nacht war sie wachgelegen, nachdem sie sich beim Feiern relativ früh zurückgezogen hatte und nun herrschten dunkle Gedanken in ihrem Kopf. Sie drückte die Handflächen gegen ihre Schläfen und atmete tief durch, ihre Hand tastete nach ihrem Handy. Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Und sie hatte erst gegen vier Uhr früh zuletzt auf die Uhr geschaut und die Band unten lachen und feiern hören. Sie fragte sich, ob Tom wohl auch wach war und an sie dachte. Lag der Gitarrist auch im Bett und überlegte, wie es weitergehen sollte?

Stereo HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt