Familie (5)

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Am späten Abend beschloss Marian, noch einmal durch das Schloß zu gehen und Will zu suchen. Vielleicht hatte er sich ja am Vormittag einfach nur vor ihnen versteckt?

Sie tat es einerseits, weil sie Will zugegebenermaßen schnucklig fand (genau wie seinen Bruder, aber bei Will war es ohne Liebe) und ihn mochte.
Aber sie tat es auch, da sie nicht wollte, daß Robin Nottingham verlassen musste.
Es wäre schrecklich für sie, wenn er weg sein würde ... wenn sie nicht ab und zu in seine tiefen Augen schauen konnte und wenn sie nicht ab und zu sein verschmitztes, süßes Lächeln sehen würde.

Marian schaute in jeder erdenklichen Ecke nach, in jedem Winkel des Schlosses, den sie kannte.
Und sie kannte sehr viele Winkel, sie lebte ja schließlich schon seit ihrem achten Lebensjahr hier!

Sie guckte sogar im Kerker nach, doch Marian fand keine Spur von dem kleinen Jungen.

Doch dafür hörte sie ganz am Ende des Kerkers, wie Prinz John sich flüsternd mit jemanden unterhielt:

,,Ja, genau, und ihr haltet ihn so lange hier fest, bis seine Eltern verrückt werden und voller Sorge wieder nach Locksley flüchten wollen ... Natürlich mit Robin!".

Marian stockte und lunste um eine Ecke herum, um mehr zu hören und um diese Person, mit der ihr Cousin sich unterhielt, in dem Fackelschein sehen zu können. Allerdings war der Kerl neben ihm in Schwarz gekleidet und trug eine Maske, die fast sein ganzes Gesicht bedeckte.

Gerade in dem Moment gaben sich die beiden die Hände und der Kerl drehte sich um, um in Richtung Tür zu rennen.

Erschrocken zuckte Marian zurück, huschte in die hinterste Ecke in die Schatten und presste sich an die Wand.
Sie war sich sicher, das der kalte Blick von ihm sie kurz gestreift hatte.

Lufthanhaltend beobachtete sie, wie der flackernde Schatten von dem Mann immer näher kam. Dann erschien er hinter der Ecke und sah mit konzentrierten Augen in ihre Richtung.
Sie kniff die Augen zusammen und betete, daß er sie doch nicht gesehen hatte.

,,Was ist los? Warum bist du stehen geblieben?", fragte Prinz John verwirrt und trat neben den Mann.
,,Ich dachte nur, da wäre‐ ... Aber egal.
Mit dem Festhalten geht klar. Tschüss", antwortete der Kerl, drehte sich weg und lief leise davon.

Prinz John sah in den dunklen Winkel, wo Marian stand, und schien zu überlegen, ob da jemand war.

Doch am Ende schüttelte er den Kopf und ging dann wieder zufrieden in das Schloß hinein.

Marian wartete noch einen Moment, um ihr Herz zu beruhigen, bevor sie aus dem Kerker auf die Zugbrücke rannte.
Doch der Mann war schon in der Dunkelheit der Schatten im Sherwood Forest verschwunden.





Am Tag darauf lief sie vormittags sofort ins Versteck, um Robin zu erzählen, was sie gestern Abend belauscht und gesehen hatte.

Er saß gerade auf einem Stuhl und zupfte unzufrieden an einer Bogensehne herum, die sich vom Bogen gelöst hatte.
,,Was ist?", fragte er, als er sie bemerkt hatte.

Marian ging neben ihn und sagte: ,,Ich habe gestern Abend Prinz John und noch jemand anderen belauscht ... Es ging um Will".

Sofort sprang Robin auf und sah sie aufmerksam an. ,,Was haben sie gesagt?! Geht es Will gut? Weißt du, wo er ist?".
Sie schüttelte den Kopf und er ließ enttäuscht die Schultern hängen.

,,Prinz John hat nur etwas davon gesagt, daß der Mann, der neben ihm stand und noch irgendwelche andere ihn noch so lange festhalten sollen, bis deine Eltern verrückt werden und wieder nach Locksley gehen wollen ... mit dir!".
,,Oh, dieser Bastard von Prinz John! Ein unschuldiges Kind gefangen zu nehmen?! Mein armer Bruder! Ich muss ihn sofort befreien!".
,,Nein!", rief Marian und legte ihm eine Hand auf den Arm. ,,Alleine wirst du es nicht schaffen! Dieser Mann sah sehr stark und gefährlich aus! Und wenn es davon noch mehrere gibt, wäre das reiner Selbstmord, alleine zu versuchen, Will zu befreien! Es wäre besser, wenn ich mit dir kommen würde ...".
Robin seufzte auf. ,,Aber was ist, wenn dir dann was passiert? Ich könnte mir das nie verzeihen ...".
Marian stemmte sich die Hände in die Seiten und rief mit hochgezogener Augenbraue: ,,Ach komm schon, so zerbrechlich bin ich auch nicht! Notfalls weiß ich schon, wie ich mir helfen kann!". Sie grinste verschmitzt.
,,Na meinetwegen. Aber sei trotzdem vorsichtig! Und nun komm, wir wollen den Wald absuchen!".





Gesagt, getan.

Tuck und Little John konnten ihnen leider nicht dabei helfen, Robin's Bruder zu befreien, da sie eine sehr wichtige Aufgabe von König Richard bekommen hatten, die sie nicht abschlagen konnten.

Doch zu zweit würden sie es auch schaffen.

Sie kämpften sich nach und nach durch jeden Platz im Sherwood durch:
Marian sah auf dem Boden hinter jedem Busch und Baum nach und Robin hielt von oben aus den Baumkronen heraus Ausschau.

Es geschah leider die ganze Zeit über, das Robin mit enttäuschtem Gesicht herunter kletterte und Marian hilflos mit den Schultern zuckte - sie fanden einfach keine Spur. Kein verdächtiges Geräusch, kein abgerissener Fetzen von irgendwelcher Kleidung als Zeichen.

Normalerweise war Robin eher sehr geduldig und gab nie früh auf. Aber jetzt vergrub er seinen Kopf in den Händen und versuchte, nicht loszuweinen.
Es war alles seine Schuld! Wenn er seinen armen kleinen Bruder nicht angeschrien hätte, würden sie jetzt wahrscheinlich wieder Bogenschießen üben, kleine Brettspiele spielen oder herumtollen wie in früheren Zeiten!

Bei diesem Gedanken konnte er sich einfach nicht mehr zügeln: Nach und nach kullerten immer mehr Tränen seine Wangen hinab, während er verzweifelt die Hände wie einen Trichter an den Mund legte und laut Will's Namen schrie. ,,WILL!!! Will, wo bist du?! Bitte, antworte doch! Ich habe das alles nicht so gemeint!".

Er ging auf und ab, wusste nicht wohin mit seinen Armen und versuchte, sich zu beruhigen. ,,Wir haben im Schloß nachgeschaut, im Dorf und jetzt auch im Wald", ging er durch, ,,Nirgends eine Spur! Aber wir sollten auch nichts vergessen haben! Ach, so ein Mist!
WILL! SAG DOCH WAS! BITTE!".
Irgendwann blieb er hilflos stehen, schloss die Augen und hob den Kopf in Richtung Sonne.
,,Bitte, Will! Antworte mir!", flüsterte er mit tonloser Stimme, während weitere Tränen kamen.





Marian hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen.

Normalerweise war sie immer komplett am Ende und heulte wie sonstewas und Robin musste sie dann trösten, doch diesmal war es andersherum.

Sie ging zögernd zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Als er stumm den Kopf zu ihr drehte und sie mit glasigen Augen ansah, konnte sie es nicht mehr ertragen und zog sie ihn an sich, um ihn zu umarmen.

Er ignorierte in dem Moment, wer sie eigentlich für ihn war und schmiegte sich erschöpft an sie.

Robin legte seinen Kopf auf ihre Schulter und schloß die Augen, während er tränenerstickt flüsterte: ,,Wir werden ihn nie finden ...".
,,Natürlich werden wir das! Du musst dich aber erst einmal beruhigen, bevor wir weitersuchen.
Will muss ja irgendwo sein! Prinz John hat den Männern ja auch befohlen, ihn hier gefangen zu halten, und nicht in einem anderen Teil von England! Aber vergiss das erstmal!
Atme tief durch und denk nicht mehr an die ganzen Probleme-!".
,,Aber er ist mein Bruder ... wegen mir ist er überhaupt weggelaufen und wurde von den Männern geschnappt ... Ich muss ihn unbedingt finden, sonst hätte ich
1. nur noch Schuldgefühle und
2. würden meine Eltern noch viel saurer auf mich sein als jetzt schon! Und dann müsste ich nach Locksley gehen und euch hier alleine lassen ...".

,,Das wirfst du jetzt mal alles aus deinem Kopf! Konzentriere dich nur darauf, ein und aus zu atmen und darauf, dich zu beruhigen! Es wird alles gut! Versprochen! ".

Marian trat zurück und fuhr ihm kurz mit dem Daumen über die Wange, um ihm die Tränen abzuwischen, bevor sie seine Hand ergriff und ermunternd lächelte.
Robin lächelte auch unter Tränen und sog die Luft mit geschlossenen Augen tief ein, bevor er lautstark ausatmete und sich durch die Haare fuhr. ,,Hach! Es tut gut, sich mal so richtig auszuheulen!".
Sie lachten.







Doch plötzlich hörten sie von etwas weiter weg mehrere tiefe Stimmen, die riefen:
,,Nein, bleib stehen, du Lausbube!".
,,Musstest du ihn unbedingt alleine lassen?! Mir wäre das nicht passiert!".
,,Wer hätte denn auch gedacht, daß er ein Taschenmesser unter seinem T-Shirt versteckt hat?!".

Zwischendrin ertönte eine helle Kinderstimme: ,,Hilfe!
Hey, lasst mich los! ROBIIIINNNN!!!!!!!".













(Ich weiß, Robin würde wahrscheinlich nie so aufgelöst dargestellt werden, aber mir gefällt der Gedanke einfach, das er nicht immer nur der fröhliche und Null-Problemo-Typ ist 🤔😉)

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