19 - Wolkig mit Aussicht auf Hoffnung

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Seit Inga wieder weg war, stand ich am Fenster und wartete darauf, dass Max nach Hause kommen würde. Als ich endlich den vertrauten Klang seines Motorrads hörte, zog ich hastig meine Sneaker an und eilte die Treppe hinunter. Paul stand gerade vor der Tür und unterhielt sich mit einem Kunden. Beide sahen mich verdutzt an, als ich an ihnen vorbeirannte.

"Keine Zeit", rief ich eilig und stürmte auf die andere Straßenseite.

Als ich vor Max zum Stehen kam, keuchte ich und stützte mich auf die Knie, um Luft zu holen. Dann, als ich mich aufrichtete, bemerkte ich seinen irritierten Blick, der auf mir lag, und sah, wie seine Lippen fest zusammengepresst waren.

"Lina, lass gut sein. Es ist doch alles gesagt."

"Nein!", widersprach ich laut. "Das ist es nicht. Ich weiß Bescheid. Bitte Max, lass uns darüber reden."

Er sah sich um, die Menschen um uns herum starrten uns bereits an.

"Meinetwegen. Aber drinnen."

Er öffnete die Tür und ich schnappte erneut nach Luft, bevor ich ihm in seine Wohnung folgte. Nachdem er seine Motorradjacke und den Helm auf den Esstisch gelegt hatte, setzte er sich auf die Couch und zog die schweren Schuhe aus. Währenddessen spielte ich nervös mit meinen Händen und wartete darauf, dass er ansprechbar war. Als er den Kopf hob, fing ich vorsichtig an. "Ich bin nicht wie sie, Max."

Seine Augen wirkten müde und trostlos, aber er verstand offenbar. "Und ich bin nicht wie er, Lina. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es funktionieren wird."

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. "Sag das nicht. Es ist schlimm, was passiert ist, aber ich will nicht weiter so tun, als wärst du mir egal."

Er sah zur Seite, rieb sich den Nacken und sagte einen Moment lang gar nichts.

"Max, bitte ...", forderte ich ihn auf.

"Weißt du, wie es mir ging?", platzte es plötzlich aus ihm heraus und ich war froh, dass er überhaupt sprach. "Ich habe alles für meinen Sohn gemacht. Ich habe Geld verdient, bin jeden Tag mindestens zwölf Stunden arbeiten gegangen, damit Harper und Tyler ein schönes Leben haben. Ich habe uns eine große Wohnung besorgt und jeden einzelnen Moment mit meinem Sohn genossen. Ich dachte, er sei mein Fleisch und Blut. Ich liebe diesen Jungen, Lina!"

Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich seine Worte hörte. Sie waren so ehrlich und klar und doch voller Traurigkeit. Ich setzte mich neben ihn, sah ihn an und forderte ihn mit meinem Blick auf, weiterzuerzählen.

Er starrte auf einen Punkt im Wohnzimmer, sein Blick leer.
"Eines Tages stand ein Typ vor der Tür. Er wollte seinen Sohn sehen. Ich dachte, er hätte sich in der Tür vertan, aber ... er hatte recht. Er war der Vater. Sie hat alles zugegeben."

Seine Hände zitterten, also legte ich meine beschützend darüber.

"Bist du sicher? Habt ihr einen Test gemacht?"

Er nickte. "Als der Typ weg war, habe ich die Kontrolle verloren. Ich war so wütend", sagte er fast lachend, doch er schien die unangenehme Situation mit Humor bewältigen zu wollen. "Ich habe die ganze Wohnung zusammengeschlagen. Alles, was ich hart erarbeitet hatte - für unsere kleine Familie - während sie mich die ganze Zeit belogen und sich auf meinem Geld ausgeruht hatte."

Ich schluckte schwer, hatte aber vollstes Verständnis für seine Handlung. Vermutlich hätte ich auch so reagiert.

"Sie hat mich rausgeworfen, mir verboten, Tyler zu sehen. Sie hat mir mit der Polizei gedroht, dass sie mich anzeigen würde, wenn ich mich ihr und ihrem Sohn nähern würde."

"War er zu dem Zeitpunkt auch da, als du ...?", fragte ich vorsichtig und beendete den Satz nicht einmal.

"Nein. Er war bei seinen Großeltern. Sonst hätte ich das nicht gemacht. Aber ich war so sauer auf sie."

Sein Blick wandte sich mir zu, mit Tränen in den Augen sah er mich an. "Ich habe meinen Sohn verloren. Den Jungen, bei dessen Geburt ich dabei war. Ich, hörst du? Nicht er ... Ich war dabei!"

Seine Stimme überschlug sich fast und ich spürte die Wucht seiner Emotionen in jedem Wort. Es war, als ob der Schmerz ihn erdrücken würde, während er mir seine tiefsten Gefühle offenbarte.
"Ich bin noch einige Monate geblieben, habe auf das Testergebnis gewartet und gehofft, dass ich ihn sehen darf, auch wenn er nicht mein leiblicher Sohn ist."

"Aber sie hat es nicht zugelassen", beendete ich seinen Satz und er nickte bestätigend.

Mitgefühl breitete sich in mir aus wie eine sanfte Welle, die mein Inneres erfasste, und ich verspürte ein tiefes Gefühl der Reue. Es war, als ob ein schweres Gewicht auf meiner Brust lastete und mich daran erinnerte, dass ich Max zu Unrecht beschuldigt hatte.

Die Vorwürfe, die ich ihm gemacht hatte, dass er ein Typ wäre, der nichts Festes suchte, keine Beziehung wollte und nur seine Freiheit im Kopf hatte. Zudem hatte ich angenommen, dass er wie Jake Rivers handeln würde und seine Freundin betrügen könnte. Dabei war er derjenige, der betrogen, verarscht und zutiefst verletzt wurde.

Das alles fühlte sich plötzlich wie ein unverzeihlicher Fehler an und ich konnte nicht anders, als mich elendig und schlecht zu fühlen.

"Max, es tut mir leid", sagte ich leise.

Er zog einen Mundwinkel schief und schnaubte. "Es ist nicht deine Schuld, Lina. Und ich bin dir auch nicht böse."

"Trotzdem. Ich hatte ein völlig falsches Bild von dir und ich habe es dir nicht wirklich leicht gemacht."

Er grinste. "Die Karten habe ich dir nicht aus reiner Nettigkeit geschenkt", erinnerte er mich. "Obwohl es als Dankeschön für die Leiter und Bohrmaschine gedacht war", fügte er hinzu.

"Und nun?"

Er holte tief Luft und sah mir tief in die Augen. Es fühlte sich an, als würde er einen innerlichen Kampf austragen. Sein Blick ruhte einen Moment lang auf mir und ich verfiel ihm sofort. Die Luft begann zu knistern und mein Herz begann schneller zu schlagen. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und ich spürte ein unbändiges Verlangen nach ihm.

Sein Blick fiel auf meine Lippen und ich sah, wie er schwer schluckte. Ganz langsam näherten wir uns, berührten uns fast.

Die Gefühle überwältigten mich, als hätte sich eine Achterbahnfahrt in meinem Inneren entfaltet. Das Kribbeln in meinem Bauch verstärkte sich zu einem regelrechten Wirbelwind und mein Herz schien so laut zu schlagen, dass ich befürchtete, es würde aus meiner Brust herausspringen. Jeder einzelne Atemzug wurde zu einer Herausforderung.

Mein Verstand wurde von einem Tornado aus Sehnsucht und Hoffnung gefangen genommen. Ich wollte den Moment einfangen und für immer festhalten, ihn in meinen Erinnerungen verankern, damit ich ihn nie vergessen würde. Die Nähe zu Max war elektrisierend und ich spürte, wie sich eine grenzenlose Anziehungskraft zwischen uns aufbaute.

Doch dann klingelte es plötzlich und die Realität drang wieder in unseren kleinen Kokon der Intimität ein. Der Moment verpuffte wie eine Seifenblase. Es war wie ein plötzlicher Sprung ins kalte Wasser, der mich aus meinem tranceähnlichen Zustand riss.

 Es war wie ein plötzlicher Sprung ins kalte Wasser, der mich aus meinem tranceähnlichen Zustand riss

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Seitenwechsel (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt